17 Jahre Callcenter I

Auf der dunklen Seite der Macht

Berlin, 23.August 2020

  1. Die helle Seite der Macht

Ich habe eine supergute Berufsausbildung zum chemisch-technischen Assistenten im Oberstufenzentrum ‚Biologie, Physik und Chemie‘ gemacht: von dem 100% Wissen nutzte ich vielleicht 10%.

Und ich habe ‚Evangelische Theologie‘ studiert: kurz nach der Wende wurden hier in Berlin zwei Ausbildungszentren mit der Berliner Humboldt-Universität vereinigt: Sprachenkonvikt aus Ostberlin (dort konnte man ohne Abi Pfarrer werden; tolle und vor allen Dingen fromme Dozenten) und die Theologische Hochschule aus Berlin-Zehlendorf (das Westpendant zur Humboldt nach dem Mauerbau). Optimale Studienbedingungen mit ca. 20 Professoren, die nach und nach in Rente gingen; eine Betreuungsdichte von manchmal vier Seminarteilnehmern auf einen Dozenten; mindestens drei gute und reichhaltige Bibliotheken. Mehr geht nicht.

  1. Die dunkle Seite der Macht

Wer nicht aufpasst und Lebensentscheidungen trifft, die mit Gottes Plan nicht wirklich übereinstimmen, kann in Schwierigkeiten kommen. Und praktisch auf dem Abstellgleis enden.

Wer sich nach drei Jahren Abendabitur und sieben Jahren Rekord-Studium ‚Evangelische Theologie‘ (Latein, Griechisch, Hebräisch) beruflich neu orientieren muss, der darf als Ungelernter anfangen.

Da ist die Callcenter Branche praktisch allein zielführend. Niemals werde ich vergessen, wie ich in der ‚BZ‘ (Berliner Zeitung: Berliner Boulevardblatt des Springerkonzerns) täglich die Anzeigen las – 10 Jahre nach der Wende hatten wir hier in Berlin Massenarbeitslosigkeit. Das war noch vor Hartz IV.

Und dann losstürmte. In die Berliner Hinterhöfe: manchmal klebte noch das Firmenschild der gerade Pleite gegangenen Firma im Hausflur, während die ‚neue‘ schon loslegte. Damals war es noch nicht illegal einfach los zu telefonieren. Ja, da wurde einfach so los telefoniert. Ohrenbetäubender Lärm, noch nicht mal an Schreibtischen. Mit Endloslisten von Adressen. Damals wurde die Telekom privatisiert und die Telefontarife purzelten in den Keller.

Telefonterror war Easy Going.

  1. Meine Anfänge über dem Abgrund

Und ich mitten drin. Keine Peilung, wie diese Schöne Neue Welt funktioniert. Aber arbeitslos? Das hat mich als Christen vollkommen demoralisiert. Und auf welchen Job warten? Als Evangelischer Papst zu werden? Oder als chemisch-technischer Assistent doch nach bei ‚Schering‘ anzufangen (gab es damals noch)?

Ernsthaft habe ich tatsächlich für eine Firma namens ‚Spar-Max‘ telefoniert: 10 Stunden lang, ohne jede Bezahlung. Der ‚Deal‘ war: einen Termin für einen Versicherungsagenten über Kaltakquise, also direkt aus dem Telefonbuch Mitbürger belästigen, einen Termin schaffen und dann Geld bekommen – ohne Termin kein Geld.

Ein anderer Arbeitgeber war eine Versicherungsfirma, für die ich uralte Kundenlisten durchforstete, um zum Termin zukommen. Das war erfolgreich, so, dass eine Super-Versicherungsagentin mich als persönlichen Kontakter wollte. Was ich nicht wollte. Ende.

  1. Eine Insel der Seligen: Meinungsumfragen

Aus dem allgemeinen Sumpf und Schmutz ragen tatsächlich, kein Scherz, die Meinungsumfrageunternehmen hervor.

Es war immer legal, dass sich in die Gespräche jemand ‚hereingehängt‘ hat, um meine Qualität zu kontrollieren. Gott sei Dank. Denn so gab es keine Manipulation.

Am besten ist dabei ‚TNS Emnid‘: klasse und kurze Interviews. Leider damals über grottengrausame Internettelefonie mit Dauerrauschen und ohne jeden Schallschutz – über den grünen Tisch schaut jeder dem anderen auf den Hörer, ohne jede Barriere.

Aber: Meinungsumfragen werden rein nach Leistung bezahlt, auf Provisionsbasis also. Ein harten Knochenjob, der acht Stunden am Tag nicht zu leisten ist.

In der Branche weiß das auch jeder: Callcenter sind so anstrengend, dass es maximal möglich ist, sechs Stunden zu arbeiten; je kürzer, umso besser für das Unternehmen.

Normalerweise gilt: je mehr Arbeitserfahrung, umso weniger Fehler.

Im Callcenter ist es umgekehrt: du bist schon verglüht, wenn du angefangen hast. Sprichwörtlich ist die kurze Verweildauer der Telefonagenten: wie in einem verkalkten Durchlauferhitzer wirst du heiß gemacht – und ausgekotzt.

  1. Ein Lichtblick im Tunnel: ADM

Auf dem Foto ist ein kleiner weißer Zettel zu sehen: 241 Anrufe bzw. Anrufversuche tätigte ich an einem Maitag innerhalb von acht Stunden; also mehr als 30 innerhalb von einer Stunde.

Achtundzwanzig Abschlüsse machte ich in diesen acht Stunden, also dreieinhalb in der Stunde.

Das war noch zurzeit, also unsere Teamleiterin leider krank war; ihr Stellvertreter war allerdings ein Guter, den zu haben viel bedeutet, wenn man ungelernt allem möglichen ausgesetzt ist.

Und im Callcenter ist man allem möglichen ausgesetzt. Ich hatte gelernt, alles zu nehmen, wie es kommt, denn ich hatte gelernt: ich zähle nichts, denn meine Leistungen können schwanken – meistens in Hinsicht auf das Produkt. Nur die Vorgesetzten, die sich an dich erinnern, sind ein Rettungsanker, alles andere zählt nicht. Ich habe mich immer an die guten Vorgesetzten gehalten, um nicht durch den gnadenlosen Rost des Erfolges zu rutschen.

Ich startete mit Freenet-DSL, dann ging es mit einer üblen Abzocker-Versicherung weiter (Restschuld!), dann Telekom-DSL und Homepage, dann eine große Bank, dann Versatel-DSL, dann eine andere große Bank und schließlich reine digitale Datenarbeit ohne Verkauf für den damaligen Berliner Grundversorger. Was dazwischen war, habe ich vergessen.

  1. Eine Heuschrecke namens ‚Barclays Private Equity‘

Die Callcenter Branche ist für alle Wirren besonders anfällig. Wir sind ja praktisch nur die Subunternehmer, die die schmutzige Arbeit übernehmen.

Da ist eine echte Strategie kaum möglich: wie will man so unterschiedliche Branchen wie Pharma (ganz am Anfang von ADM, nicht mehr zu meiner Zeit), Telekommunikation, Banken, Versicherungen sowie Gas und Strom auch überblicken?

Da erwischte uns der Finanzcrash 2009 ganz böse. Zu spät wurde die Firma digital mit Computern versorgt. Die Kredite konnten nicht mehr bedient werden, weil alte Kunden absprangen.

Die Heuschrecke zeigte sich in einer Schwemme von kleinen jungen Männern im Leonardo-De-Cappuccino-Verschnitt: gleiches Alter, gleicher Anzug, gleiches Nichts-Sagendes-Lächeln, gleiche Billig-Krawatte und gleiche Aktentasche.

  1. Wenn ein Autodealer wie ein Grizzly ist

Die oben genannten achtundzwanzig Abschlüsse in acht Stunden sind nur möglich, wenn bestimmte Standards nicht mehr gelten. Bei den alten Anwahlcomputern, Dealer genannt, gibt es so eine Quote: Telefon-Durchstehl-Versuch des erreichten Kunden zum Agenten.

Das heißt: der Computer erreicht den Kunden und stellt ihn möglichst zum Agenten durch. Abbrüche des Anwahlverhaltens durch den Computer gibt es dann, wenn nicht genug Telefonagenten die vielen angewählten Kunden durchgestellt bekommen können, weil alle telefonieren.

Dann bricht der Dialer ab: der Kunde hört das Klingeln durch den Dialer und nimmt manchmal ab. Der Kunde könnte also das Telefonat annehmen – aber niemand möchte mit ihm sprechen.

Wenn also am 19.Mai durch mich 241 Telefonate bzw. Anwahlversuche (FAX, Anrufbeantworter etc.) unternommen wurden, gibt es eine nicht geringe mir unbekannte Zahl an abgebrochenen Telefonaten, die nicht von mir verursacht wurden: ein Drittel? Also unter Umständen, rein geschätzt: zu den 241 Telefonaten bzw. Anwahlversuchen können unter Umständen 70 weitere Dialer-Anwahlen kommen, die der Dialer von sich selbst abgebrochen hat.

241 Telefonate bzw. Telefonversuche in acht Stunden ist nicht wenig.

Das ist noch nicht der genannte Grizzly. Die kleinen Agenten der Schweizer Heuschrecke haben nicht nur die Firma von ‚ADM‘ in ‚Avocis‘ umbenannt, sondern auch einen so genannten Power-Dialer gekauft.

Also ein Dialer, der eine so hohe Rechenleistung hat, dass er automatisch Faxe und Anrufbeantworter erkennen kann und ausrechnet, wie viele Agenten in der Line zur Verfügung stehen, um 1:1 den Angerufenen durchzustellen.

Was heißt das? Ganz konkret: keine Wartezeit mehr zwischen Anruf zu Anruf, sondern ein Anruf nach dem anderen. Null Wartezeit. Null.

Beim alten Dialer hatte ich immer eine Ausbeute von 241 Anrufen bzw. – versuchen, bei einer reinen Telefonzeit von 4 Stunden und 38 Minuten. Also: eine Minute telefonieren und weniger als eine Minute ausruhen. Immerhin.

Der Powerdialer ist ein Grizzly: er setzt sich auf deine Lunge – und fordert von dir, durchzuatmen. Und immer lächeln, ganz wichtig. Der Kunde braucht ja deinen Schweiß und dein Blut nicht zu erahnen. So geht Verkauf.

Ist das unmenschlich? Im wahrsten Sinne des Wortes: ja. Die Maschine quetscht dich nicht nur bis aufs Blut aus, sondern schreddert noch Mark und Knochen.

Verwertung also des ganzen Menschen: der größte Lagerraum, nein, nicht Halle, weil die Decken so niedrig waren, hatte hundert (100!) Sitzplätze.

Hundert, wie in einer Legebatterie für Hühner, nur Menschen halt. Die Lautstärke ist selbst bei einer Auslastung von fünfzig (50!) unerträglich.

Wie in Legebatterien muss der Nachbar als unmittelbarer Konkurrent weggebissen werden, buchstäblich, um Luft zum Atmen zu bekommen.

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