Buchstaben und Geist

Von der Endlichkeit der Zeichen

                                                                                              Berlin, 27.Juli 2020

  1. Zeichen und Paradoxialität
  2. Weil der Buchstabe immer auch eine Eigenbedeutung hat (z.B. ist ein ‚A‘ der erste Buchstabe im deutschen Alphabet), hat seine Verwendung immer eine doppelte Bedeutung: sowohl als Verweis auf eine geistige Ebene als auch auf sich selbst.
  3. So gesehen kann der Mitteilende zunächst nicht erkennen, dass er für den Empfänger eine doppelte Botschaft sendet, die dem Empfänger paradox erscheinen muss.
  4. Jedes Zeichensystem enthält notwendig wenigstens eine Aussage, die zwiefach gedeutet werden kann.
  5. So gesehen ist jedes Zeichensystem notwendig unvollständig und ungeeignet, vollkommene Aussagen über die Wirklichkeit zu treffen.
  6. Wenn der Empfänger den Mitteilenden auf die Unvollständigkeit seiner Zeichenaussage hinweist, so gibt es diesem die Gelegenheit, sich seiner Unvollkommenheit zu erinnern.
  7. Zugleich ist dies der Anfang unendlicher Missverständnisse, denn weder das alte Zeichensystem des Mitteilenden noch das neue Zeichensystem des Empfängers mit seinen Fragen helfen dem Übel grundsätzlich ab.
  8. So gebiert der Tod die Unendlichkeit der Endlichkeit.

 

  1. Zeichen und Predigt
  2. Wenn die Predigt als Wortsystem also notwendig unvollkommen, ja sogar widersprüchlich ist, so ist die beste Predigt nicht diejenige, die sich auf ein äußeres Geschehen bezieht, sondern diejenige, die sich auf die innere Wirklichkeit des Empfängers bezieht.
  3. Das Wort vom Kreuz zielt auf die innere Umkehr, also die Buße.
  4. Die Paradoxialität des Zeichens ist also durchaus kompatibel zur Predigt.

 

  1. Zeichen und Stillstand
  2. Der Buchstabe kann nur als ein Zeichen für etwas Anderes stehen, wenn das, was er bezeichnen soll, nicht in Bewegung ist.
  3. Das Bezeichnete muss einen Zustand beschreiben.
  4. Mit einem Wort, das Bezeichnete muss tot sein.
  5. Wäre das, was bezeichnet werden soll, in Bewegung, so könnte alles Mögliche, eben viele Möglichkeiten, behauptet werden.
  6. Zeichen und Tod gehören also zusammen.

 

  1. Zeichen und Bezeichnung
  2. Wenn eine Person einen Zustand bezeichnen möchte, hat sie einen Gedanken über das zu Bezeichnende.
  3. Um diesen geistigen Vorgang auszudrücken, muss sie sich von ihm lösen und ihn quasi im Buchstaben materialisieren.
  4. Sie presst also den Geist in einen Buchstaben.
  5. Wir müssen also in einem gewissen Sinn den lebendigen Geist innerer Erkenntnis kanalisieren und ihn dem Tod des Buchstabens weihen, um anderen eine Mitteilung zu machen.

 

  1. Buchstabe und Geist: Endlichkeit und Ewigkeit
  2. Die Unterwerfung der Schöpfung, also auch unserer menschlichen Erkenntnis, in die Knechtschaft der Endlichkeit zeigt sich im Buchstaben.
  3. Wir sehen nicht die Gedanken des anderen, sondern brauchen den brutalen Buchstaben, der buchstäblich töten muss, um Erkenntnis zu erzwingen.
  4. Die Frage Augustins, ob wir im Himmel unsere Gedanken sehen werden[1], muss bejaht werden: alles andere macht keinen Sinn.
  5. So gesehen ist das Kreuz das Ende menschlicher Erkenntnis: es ist der Beginn der Sündenerkenntnis als geistige Schau und somit die Aufnahme Gottes in der Seele.

 

  1. Glauben und Wissen bedingen einander
  2. So gesehen ist der Glaube die notwendige Antwort auf den tödlichen Buchstaben, denn er ist Geist.
  3. Die Erkenntnis des heiligen Paulus ist wahr: „Denn der Buchstabe tötet, der Geist aber macht lebendig.“(II Kor 3,6b)

 

 

 

 

[1] Es ist Frage 47 in seinem Buch ‚Dreiundachtzig verschiedene Fragen‘: Paderborn 1972, 68f.

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