Zeichen und Unvollständigkeit

Warum unsere Erkenntnis unvollständig sein muss

                                                                                                             Berlin, 25.Juli 2020

  1. Zeichen

Ein Zeichen[1] soll ein Inhalt ausdrücken, den ein anderer, der Zeichenempfänger, verstehen soll.

Grundlage der Mittlerschaft des Zeichens ist die Tatsache, dass wir Menschen die Gedanken der anderen buchstäblich nicht lesen können.

Das also, was unsere Gedanken sind, muss ausgedrückt werden. Und zwar genau so, dass der andere etwas sehen kann.

Das sichtbare Zeichen muss den inneren Sachverhalt, meinen Gedanken, so aus-drücken, dass der Zeichenempfänger buchstäblich sehen kann, was ich meine.

Das Innerste der Gedanken wird durch das Zeichen nach außen gekehrt, weil das äußere Zeichen durch Beispiele veranschaulicht, was gemeint ist.

Das dem Sender und dem Empfänger Gemeinsame ist das Sehen: des Zeichens selbst und des Gemeinten.

Dabei ist das Zeichen selbst ein anschaulicher Gegenstand, über den gesprochen werden kann, so wie das Wort ‚Wort‘ aus vier Buchstaben besteht, die gelesen, also gesehen, werden können.

Wer also Zeichen benutzt, der kann über ihre bezeichnete Mitteilung sprechen und über die Zeichen selbst, also z.B., dass das Wort ‚Wort‘ aus vier Buchstaben besteht, ein Hauptwort ist, dessen erster Buchstabe groß geschrieben wird etc.

 

Die Ebene der Mitteilung (Genitivus subiectivus) und die Ebene der Selbstbezeichnung (Genitivus obiectivus) ist eine zu klärende. Diese zwei Grundbedeutungen hat jedes Zeichen immer.

Der Mitteilende muss immer mitbedenken, dass die Benutzung von Zeichen verschiedene Ebenen hat, die grundsätzlich immer bestehen, ja bestehen müssen: wie wir gesehen haben.

 

Natürlich muss der Mitteilende die gleichen Zeichen nutzen, die der Empfänger ebenfalls kennt. Oder er führt den anderen in seinen eigenen Zeichengebrauch ein.

Nochmals: niemals kann der Empfänger von Mitteilungen die Gedanken des Senders lesen, nur dessen Buchstaben.

 

 

  1. Unvollständigkeit

Aus dem Geschriebenen folgt sogleich die Unvollständigkeit eines jeden Zeichengebrauchs, denn die Ebene des Genitivus obiectivus kann niemals ausgeschlossen werden.

Immer weiß der Mitteilende mehr, als er sagen kann, denn immer muss er zuerst verdeutlichen, ob er über das Zeichen selbst (obiectivus) oder über das spricht, was das Zeichen bedeuten soll (subiectivus).

Weil zuerst die Zeichen eingeführt werden, die das mitteilen sollen, was der Sender gemeint hat, ist vollkommen unentscheidbar, ob der Sender die eine oder die andere Ebene gemeint hat.

Dies wiederholt sich auf jeder neuen Ebene des Zeichengebrauchs – und ist vollkommen uneinholbar.

 

  1. Religiöse Zeichen

Bei religiösen Wahrheiten über Gott geht es letztlich um das Gleiche, mit einem nicht geringen Unterschied.

Sender und Empfänger sehen nur die Buchstaben der Offenbarung über Gott, aber können deren Inhalt nicht nachprüfen.

Sie nutzen also Zeichen, die Inhalte berühren, die der Einsicht nur teilweise fähig sind: weil Gottes Sein sich der menschlichen Anschaulichkeit entzieht.

Dennoch kann es sein, dass der eine etwas eine Erfahrung mit Gott macht, die der andere nicht kennen kann.

Um die religiöse Mitteilung gibt es also besondere Kämpfe, weil die Erfahrungswerte zwischen Sender und Empfänger höchst unterschiedlich sein können.

Die Gedanken des Senders können hier entschieden von dem Erfahrungshorizont des Empfängers abweichen.

Umso mehr müssen Sender und Empfänger um das jeweilige Verständnis des anderen ringen.

 

 

  1. Unvollständigkeit und Unbeweisbarkeit

In seinen berühmten Aufsatz ‚Über formal unentscheidbare Sätze der Principia mathematica und verwandter Systeme I‘[2], den der österreichische Mathematiker Kurt Gödel 1931 veröffentlicht hat, wies dieser nach, dass jedes hinreichende System der formalen Mathematik notwendig unvollständig ist.

Und dies gilt schon für die Definition der „natürlichen Zahl q[3]: dabei ist q einfach nur eine Zahl, die zur Nummerierung (Gödelisierung[4]) aller „Grundzeichen“[5] des formalen Systems[6] gehört. 

Einerseits gehört als q zur „Klasse K natürlicher Zahlen“[7], andererseits ist diese Tatsache nicht noch bewiesen.

Damit geschieht ein Doppeltes, das unvereinbar scheint: die Klasse der natürlichen Zahlen ist vorhanden, aber noch nicht in einem beliebigen System bewiesen.

So kann es also Zeichen-Systeme geben, die zu einer Klasse gehören, deren Zugehörigkeit allerdings noch nicht bewiesen ist.

So eine geistige Zuordnung möglich, die in einem Zeichensystem noch nicht abgebildet bzw. bewiesen ist.

Ein Ja mit einem Nein also.

Dies ist das Kennzeichen des Paradoxen. Gödel folgert: „mit dem ‚Lügner‘ besteht eine nahe Verwandtschaft, denn der unentscheidbare Satz [R (q); q] besagt ja, daß q zu K gehört, d.h. nach (1), daß [R (q); q) nicht beweisbar ist.“[8]

Und Kurt Gödel erkennt: „Es läßt sich überhaupt jede epistemologische Antinomie zu einem derartigen Unentscheidbarkeitsbeweis verwenden.“[9]

 

  1. Wahrheit und Unentscheidbarkeit

Es kann also Zeichensysteme, Worte, geben, die wahr sind, aber für den Menschen unentscheidbar, weil er die Voraussetzungen desjenigen nicht erkennen kann, der als Sender die Worte mitteilt.

In der Arithmetik, also in den natürlichen Zahlen, ist die Unentscheidbarkeit von Sätzen schon bemerkenswert, weil unerwartet.

Umso mehr muss dies für religiöse Wahrheit gelten.

 

 

 

[1] Ganz allgemein urteilt Wikipedia: „Ein Zeichen ist im weitesten Sinne etwas, das auf etwas anderes hindeutet, etwas bezeichnet.“ https://de.wikipedia.org/wiki/Zeichen

[2]  Zitiert nach Gödel, Kurt, Collected Works I (deutsch-englisch), Oxford-New York, Paperback 2001, 145-195.

[3] A.a.O., 148.

[4] A.a.O., 146: „Das oben beschriebene Verfahren liefert ein isomorphes Bild des Systems PM im Bereich der Arithmetik und man kann alle metamathematischen Überlegungen ebenso gut an diesem isomorphen Bild vornehmen.“

[5] A.a.O., 146.

[6] A.a.O., 146: „Die Formeln eines formalen Systems […] sind äußerlich betrachtet endliche Reihen der Grundzeichen (Variable, logische Konstante und Klammern bzw. Trennungspunkte)“.

[7] A.a.O., 148.

[8] Ebd.

[9] Ebd., Fußnote 14.

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