17 Jahre Callcenter II

Einen Hauch über dem Abgrund

                                                                                                                 Berlin, 13.September 2020

  1. Warum wechseln?

Von meiner Grizzly-Erfahrung habe ich schon geschrieben. Damals hatte ich zwei Trillerpfeifen-Attacken an einem Tag. Zwei. Wenn jemand deine Gesundheit schwer schädigen will, dann pfeift er mit einer Trillerpfeife in den Telefonhörer – er zerschneidet mit einem Messer gleichsam deine Nerven.

Das kommt von sowas, nämlich dann, wenn Kunden im Teufelskreis des ewigen Telefonterrors stecken. Also keine Möglichkeit sehen, nicht mehr angerufen zu werden.

In diesem konkreten Fall ging es um Kunden, die von ihrer eigenen Firma Aktien hatten – im Depot der Bank, für die ich telefonierte. Sie fühlten sich also gar nicht als Kunden der Bank – und wollten mit ihr nichts zu tun haben. Und so stellten sie sich am Telefon auch an: denkbar ungehalten, Schimpfkanonaden – bis zur Trillerpfeife.

Als Dienstleister kannst du nicht einfach diese Kunden aus den Anruflisten sperren lassen. Aber ich konnte immerhin einen Vermerk machen, dass in unserem Power-Dialer genau diese Kunden nicht mehr angerufen werden. 30-40 Vermerke machte ich jeden Tag.

Wenn jeder Anruf oder Anrufversuch von der Bank mit 2-3 Euro oder mehr bezahlt wird, macht es sich schon bemerkbar, was ich tue.

Ich bezahlte kurz nach meinen zwei Trillerpfeifenattacken und den Sperrungen mein Handeln mit drei schriftlichen Ermahnungen am gleichen Tag.

Vor den drei Abmahnungen vor der Kündigung gibt es die ‚Ermahnungen‘. Als verdienter Mitarbeiter des Volkes, der es zehneinhalb Jahre (!) innerhalb einer einzigen Callcenter-Firma geschafft hat, wollten sie nicht so brutal zu mir sein.

Auf gut Deutsch: Schmerzen von den Kunden am Telefon mit Trillerpfeifen und übelste ungerechtfertigte Disziplinarmaßnahmen – was kann schöner sein?

Nun, ich erspare mir von dem damaligen Berliner Grundversorger zu sprechen, bei dem in meinen Augen meine Firma unmittelbar in kriminelle Machenschaften verstrickt war.

Ausgerechnet digitale Datenverarbeitung, also keine Telefonie: die größten Sauereien, die ich je erlebt habe: Wiederanmeldungen trotz Wechselwunsch, schlampige Recherche, anonyme systemseitige Anmeldungen ohne jede Kontrolle und und und.

  1. 3 Jahre Arbeitssuche – und dann doch noch

Als ich nach den drei Ermahnungen mühsam verstanden hatte, dass es doch besser ist, zu gehen, verzögerte sich mein Abflug dennoch um knapp drei Jahre.

Drei Jahre suchte ich unter jedem Stein, ob da vielleicht eine Goldader versteckt ist. Und traf die alten Gespenster meiner Vergangenheit wieder. Die Scheintoten der Callcenter Branche leben scheinbar ewig, manchmal mit neuem Namen. Meistens nicht.

Versicherungen hatten es mir angetan. Zwei wirklich gute Jobs bekam ich nicht: top Bezahlung und attraktive Sozialleistungen – noch niemals in meinem Leben bekam ich Urlaubs- und Weihnachtsgeld.

Dort hätte ich schon sein können, wenn ich kompatibel zum anderen Ufer gewesen wäre. Irgendwie bin ich als John-Wayne-Fan nicht so ganz auf Toleranz gepolt, jedenfalls was ‚das‘ betrifft.

Tja, und dann doch. Wiederum ein Versicherungsunternehmen. Und tatsächlich immerhin knapp 800 Euro brutto mehr. Achthundert!

Von knapp über 1100 Euro netto auf 1500 Euro. Da wird ein Junggeselle wieder so richtig feurig. Während die ganzen Westunternehmen über meine Gehaltswünsche nur Lachen mussten, weil sie so mickrig waren: jetzt gab es endlich wieder ordentlich Wurst auf meine Berliner Stulle, nicht nur trocken Brot!

‚Vertriebstelefonist‘ sollte ich sein: also nicht so ein oller ‚Call Center Agent‘, sozusagen die Premium-Variante der Branche…

  1. Drogen ohne Ende

Ich wunderte mich noch, als meine Bewerbung lief: wo waren all die Mitbewerber? Immerhin gab es ordentlich mehr Asche ins Portemonnaie. Sollten sie mehr wissen als ich?

Sie wussten mehr als ich. Ich dachte damals: ich fange als Ungelernter an und werde zum Versicherungsfachmann bzw. kaufmann ausgebildet. Versicherungen, dachte ich, da geht es um mehr Geld und um mehr Verantwortung und also um mehr Wissen. Ausbildung eben.

Pustekuchen. Um Drogen ging es. Unser Trainer war ziemlich voll. Diejenige, die mich ständig anschwärzte, hatte wohl am Ende Crystal Meth in sich. Ihr damaliger Freund Kokain. Und ein anderer Cannabis.

Ja, der Vertrieb hat es in sich. In meinem alten Call Center waren wir allein in Berlin in besten Zeiten immerhin tausend Leutchen.

In dieser Vertriebseinheit waren wir keine fünfzig. Und die genannten vier Menschen – und ein ungenannter Trinker noch dazu – gehörten zu denen, mit denen ich unmittelbar zusammenarbeiten durfte: im Team von nicht einmal zwanzig! Also ein Schwerstabhängiger auf fünf Normalos! Nicht übel, oder?

Nun, mit fast fünfzig Jahren tut man sich schon so Einiges an, um nicht arbeitslos zu werden, würde ich mal sagen…

Ein Unternehmen, das auf ein gutes Betriebsklima setzt, hat meist einen Krankenstand, der insgesamt unter Normal ist. Wir haben einen Krankenstand der um den Faktor 2 über Normal ist – in einem Unternehmen, das nicht wirklich klein ist und die Welt umspannt.

Wir ragen seit sechs Jahren mit einem Negativrekord aus jeder Statistik heraus, was sich in den jährlichen Umfragen zur Unternehmenszufriedenheit brutal offen zeigt: bodenlos!

  1. „Sie wissen mehr, als ich wissen sollte!“

Unsere Vertriebseinheit sollte beides: über so genannte Leads hatten wir die Berechtigung, an den Privat- und Geschäftskunden heranzutreten.

Und dann gab es noch den Händler-Support. Sie hatten Zugriff auf unsere Versicherungsprogramme über ihre Verkaufsportale: eigentlich sollten sie alles vor Ort mit dem Endkunden regeln. Wir sollten sie nur dabei unterstützen. Telefonisch unterstützen.

Dabei waren die armen Verkäufer praktisch die Crash-Test-Dummies für uns: während irgendwelche Systementwickler irgendwo in Indien, die von Versicherungen keinen blassen Schimmer hatten, Fehler einbauten, sollten sich die Händler melden, um uns von den Fehlern zu erzählen…

Ganz wirklich: wir waren praktisch am Telefon die Ahnungslosen, die die armen Händler mit ihren Worst-Case-Szenarien pampern und hinhalten sollten, damit wir eine Art Fehleranalyse erstellen konnten, um dann über tausend Umwege nach Indien zu supporten (wie es Neudenglisch heißt) – der reinste Wahnsinn!

Daher mein Spruch für das Telefon, um den Händlern zu signalisieren, dass ich auch nur eine arme Sau, äh Schwein, bin: „Sie wissen mehr, als ich wissen sollte!“

Denn natürlich haben die indischen Systementwickler es nie nötig gehabt, uns die Spur einer Ahnung zu vermitteln, woran sie wieder am neuesten ‚Release‘ gebastelt haben.

Und natürlich hat kein deutscher Auftraggeber den armen Indern Versicherungswissen vermittelt: warum auch?

Wie im Sozialismus lernt man so, nicht Fehler zu lösen, sondern mit ihnen zu leben: also Klebchen an das Absperrband rund um die Baustelle nach dem Motto ‚Dies ist eine Baustelle‘ – und die Karawane zieht weiter.

Und dann die Transparenz: weil wir die Probleme ständig an Mitarbeiter supporten sollten, die von Versicherungen keine Ahnung haben, machte es wenig Sinn, überhaupt darüber zu reden.

Denn zum einen haben die Inder fleißig gearbeitet und wir nie eine Mitteilung bekommen, woran sie genau wiederum versagt haben.

Und zum anderen hat unser fleißiges Reporten (wieder so ein Neudenglisch) wohl nur den digitalen Mülleimer geflutet, weil wir niemals mit den entscheidenden Köpfen Kontakt hatten.

Die klassische Kommunikationsfalle: über Dinge sprechen, die andere gar nicht verstehen können, weil es niemanden gibt, der die Ebenen miteinander vernetzt und die technischen Sachverhalte erklärt.

Nun ja, Call Center sind halt so. Wie viele Menschen hier zur Raserei, ja zum schieren Wahnsinn gebracht wurden, weiß nur Gott. Und das ist gut so.

  1. Profilneurotiker und andere Zombies

ADM, wie meine alte Firma bis zur Übernahme durch die Schweizer Heuschrecke hieß, hat praktisch das Telefonieren erfunden:

  • Kabinen ganz aus Sperrholz rundherum – wie eine Telefonzelle ohne Tür, mit Teppich ausstaffiert: vollkommen schalldicht
  • Teamleiter unmittelbar aus dem Team für das Team, also flache Hierarchien
  • Praktisch nur Mitarbeiter, die man als Normalos bezeichnen kann: keine Ehrgeizlinge, sondern gestandene Leute

ADM wusste: die Profilneurotiker bringen zwar schnell Cash, aber zugleich ganz viel Unmut. Und sind nicht stornosicher.

In meiner neuen Firma nun das genaue Gegenteil: eine solche Ansammlung von miesen Charakteren kann nur aus einem Lehrbuch für Failed Enterprises stammen…

Alles, was gegen gute Mitarbeiterführung spricht: Krass jung und ohne Berufserfahrung; krass alt und verbraucht aus dem Selbständigen-Milieu; alle Religionen, natürlich; alle sexuellen Vorlieben, natürlich.

Mit einem Wort: die übelsten Großmäuler und Faulpelze ever – typische ‚Vertriebsprofis‘ halt.

Erst als in meiner alten Firma die Heuschrecke auf Cash setzte, haben wir echte Profilneurotiker bekommen; die hatten es allerdings als Nichtse echt schwer, sich durchzusetzen.

Hier dagegen habe ich mindestens zehn (10!) Hard-Core-Erfolgs-Junkies kennengelernt: ausgebrannt und nach Unfähigkeit stinkend.

  1. 100% Anforderung, aber nur 10% Wissen

In gut ausgestatteten Call Centern wie es ADM einmal war, ist es normalerweise gar nicht nötig, viel über das Produkt zu wissen.

Bei Versicherungen ist es schon etwas anders. Je älter eine Versicherung ist, umso mehr Ausnahmen gibt es rund um das Produkt.

Nicht weiter ausgebildet zu werden, ist genauso, als würde man von einem Floss auf eine Hochseejacht umsatteln.

Ein Steuer haben sie beide. Vielleicht auch ein Segel. Aber da gibt es Unterschiede, irgendwie und irgendwo.

Und wenn ich auf eigene Rechnung mein eigenes Boot versenke – und mich dazu: naja, Schuld, eigene.

Aber im normalen Geschäftsleben?

Verletzung der Sorgfaltspflicht ist noch das Mindeste, was man hier unterstellen kann. Und es liegt wiederum ein Hauch kriminelle Energie in der Luft: warum bekomme ich nicht die nötigen Informationen in einer berufsbegleitenden Ausbildung, die ich tagtäglich benötige?

  1. Eine Rolle vor- und rückwärts: von Verkauf auf Support und umgekehrt, von Jetzt auf Sofort zu 100%

Wenn man technisch und strukturell letztlich nur ein Anhängsel ist, dann kommen die einem Vorgesetzten manchmal auf komische Einfälle.

Da wir letztlich knapp zehn verschiedene Produkte für verschiedene Händler angeboten haben, ist schon allein der Verkauf dieser Produkte zum Teil höchst anspruchsvoll. Besonders dann, wenn zu diesen Produkten Varianten angeboten werden, die einige Anwendungserfahrung benötigt.

Wenn also die eine Gruppe (Neudenglisch: Team genannt) drei von zehn Produkten versteht, dann sind die anderen sieben Neuland. Zudem dann, wenn zu jedem Produkt einzelne technische Vorgänge gehören, die die anderen nicht haben.

Um die rechnerische Auslastung zu erhöhen, meinten die uns Vorgesetzten, alles wild mischen zu können. Die einen machen das einfach mit, was die anderen schon können – und umgekehrt. Schulungen sollte es nach und nach geben. Sollte es geben.

Die Wirklichkeit schlug wild auf uns ein: Privatkunden sind recht leicht zu nehmen – Händler, denen es um das Geschäft geht, sind eine Nummer größer. Oder zwei oder hundert. Je nachdem, an wen der arme Mitarbeiter gerät.

Ein nicht konkurrenzfähiges Produkt verkaufen zu sollen, ist manchmal ein heldenhaftes Unterfangen.

Der Stress allerdings, Kunden wie Händler nicht die Auskunft geben zu können, auf die sie ein Recht haben, ist moralisch selbstzerstörend. Und Kunden wie Händler zerfetzten unsere Nerven beispiellos.

Denn ein Händler, der telefonische Unprofessionalität auch nur auf zwanzig Kilometer wittert, wird zum Stier. Vollkommen zu Recht. Denn es ist sein Geschäft, welches wir Telefontrottel zerstören.

  1. Reine digitale Datenbearbeitung: schöner als Telefonterror?

In meinen Augen muss die analoge Welt, und dazu gehört das Telefonieren, immer den Vorrang vor dem Cyberspace haben.

Denn Letzterer ist immer nur Abbild der wirklichen Welt, die greifbar ist. Jeder Pups ist wertvoller als das schönste Foto der Welt.

In der analogen Welt handeln wir Menschen, von Mensch zu Mensch.

Die digitale Welt ist die Welt der Maschinen und der anonymen Administratoren. Andere bestimmen, wie dein Computersystem verändert wird und vor allen Dingen wann. Und ob du eine Nachricht über diese Veränderungen bekommst oder du hart selbst herausfinden darfst, was wieder verändert wurde.

Noch schlimmer ist, wenn du digital Arbeit über ein Computerjournal gesteuert bekommst. Und du keine Peilung hast, was zu tun ist.

Der schiere Wahnsinn. Amoklaufende Kunden, die mit deinem Teamleiter sprechen wollen, sind nichts dagegen.

Noch peinlicher, ja verkommen ist es, wenn du während der jahrelangen Arbeit ständig mitbekommst: du wurdest falsch und unvollkommen geschult. Es sind dann deine eigenen Kollegen, die dich peinsam dabei erwischen, wenn du – wieder einmal! – etwas falsch machst.

Und schlimmer: als wir noch im Verkauf und Support tätig waren, sollten die Produkte, die wir verkauften oder den Händlern erklärten, an die Kunden über die Vertragsabteilung ausgeliefert werden. Jetzt ist es anders. Wir schalten die Anträge für die Produkte quasi scharf – und die Kunden bekommen, was wir verschlimmbessern.

Und ich rede von krassem Unwissen: als ich meine Berufsausbildung machte und danach studierte, bekam ich das Beste aus Deutschland mit, was wir zu bieten haben – super gutes Wissen! Wohl der einzige echte Export-Schlager aus ‚Made in Germany‘ ist unsere Wissenschaft. Damals brauchte ich von dem 100% Wissen vielleicht nur 20-30%.

Jetzt bräuchte ich 100% Wissen – und bekomme 70-80%!

Und wie tief schwarz innerlich darf ich mich fühlen, wenn ich wieder einmal entdecke, dass ich fünf Jahre lang den Kunden etwas ganz Falsches erzählt habe?

Und entdecken muss, dass die Programme, die schon vorher nutzte, mit Befehlen, die ich nicht kannte, Informationen enthielten, die für meine Arbeit mehr als nützlich waren?

Und noch mehr: durch meine unbeabsichtigte, aber wirklich vorhandene mangelnde Sorgfalt, sind den Kunden Schäden entstanden.

Zwar kann ich für das bescheidene Computersystem nicht, dass die Einstufungen für Kunden nur mangelhaft darstellt, weil es bestimmte Varianten nicht kennt. Und ich kann nichts für die mangelhafte Verarbeitung der vorhandenen Varianten, weil die schlechten Server irgendwo in Südosteuropa liegen oder gar weiland in Kasachstan…

Hinterlasse einen Kommentar