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Ein alter weißer West-Berliner spricht

Berlin, 9.Januar 2021

Es gab eine Zeit, in der ich mir nicht vorstellen konnte, dass eine Jahreszahl mit ‚2000+‘ Wirklichkeit wäre. Nicht, weil ich todessehnsüchtig wäre, sondern weil mir die Zahl komisch vorgekommen ist. So, als dürfte sie nicht sein.

  1. Wo ist mein altes Westberlin?

Um fünf Uhr morgens erblickte ich im Schöneberger Elisabeth-Krankhaus[1] das Licht der Welt.

Und deswegen bin ich jetzt genau fünfundfünfzig Jahre alt – und sechs Tage und zehn Stunden.

Ich bin also ein echter West-Berliner Eingeborener. Ein Native Speaker von Standarddummheiten wie „Icke bin Baliner, wer mia haut, den hau‘ ich nieder (oder: wieder)!“

Voll der krasse Spruch: voll das Herz und die ganze Schnauze, wobei das Herz ziemlich hinterrücks erdolcht wird, jedenfalls bei diesem Spruch.

Wir West-Berliner – natürlich ‚West-Berlin‘, nicht: ‚Westberlin‘[2] – empfanden uns als Pfahl im Fleisch des Kommunismus und vor allen Dingen als ‚Schaufenster des Westens‘[3].

Kurzum: wir West-Berliner dachten, wir wären die Elite, jedenfalls des freien Deutschlands.

Und wir waren es. Es war nett im ummauerten Berlin. Eng nur für den, der auf der Wohnungssuche war. Oder gerne reiste. Ich war vor dem Mauerfall nur Ersteres. Selbst unsere Punks waren nett.

Natürlich: die 1.Mai-Demonstrationen waren nicht nett und die antiamerikanischen gegen Reagan, Haig, und Bush auch nicht.

Es war die Zeit, wo es Volksaufstände gab, weil der Berliner Senat die Schülermonatskarte um zwei Mark pro Monat verteuerte. Und die Bundesregierung das Volk zählen wollte.

  1. Freie und soziale Marktwirtschaft

An meinem ersten richtigen Arbeitsplatz musste ich eine so genannte rollende Schicht übernehmen: zwei Wochen Frühschicht ab sechs Uhr, dann eine Mittel von Sonntagmittag bis Freitag (sechs Tage!) und eine Nachtschicht (21:30 bis 6 Uhr). Hammermäßig!

Aber es war damals mein erster und bester Chef, ein junger Kerl, der tausendprozentig zu mir gehalten hat. Mit Gewerkschaft und Tarif und vielen Zulagen (Nacht- und Wochenende). So viel verdiene ich jetzt nicht. Nach dreißig Berufsjahren, vergleichsweise.

Die betriebliche Mitbestimmung gab es, jedenfalls bei uns im freien West-Berlin.

  1. Gute Schule und Ausbildung: Deutsche Wertarbeit

In Corona-Zeiten berührt mich ganz eigenartig, wie wenig sich die Erwachsenen darum kümmern, dass Kinder – manchmal auch: ihre eigenen jetzt schulpflichtigen – während inzwischen fast einem Jahr keinen regelmäßigen Schulunterricht bekommen.

Dieses komische Hick-Hack, das noch nicht einmal einer ordentlichen Patchwork-Decke gleicht, irritiert mich.

Als ich zur Schule ging, war immer glasklar: Schule muss! Egal, ob Eis oder Schnee.

Einmal rief mich der Schuldirektor[4] zu sich: weil unsere Wohnung in der gleichen Straße lag, brauchte ich nur zwei Minuten, um eine kurze Mittagspause dort zu machen. Ich hatte mich also unerlaubt entfernt, allerdings ohne ein Unrechtsbewusstsein, weil mir kein Verstoß gegen die Regeln bekannt war.

Damals brauchte nicht darüber diskutiert werden, ob fernbleibende Schüler von der Polizei abgeholt werden müssten: es gab keine!

Schule muss, weil uns vollkommen zu Recht erklärt wurde: Deutschland hat keine Rohstoffe und liegt kontinental eingezwängt – Russland auf der einen, Frankreich auf der anderen Seite. Deutschlands Kapital sind seine Menschen: genau das, habe ich verstanden – so einfach, so klar.

Niemals werde ich vergessen, wie ich zwei Top-Ausbildungen meinem deutschen Vaterland verdanken: zum chemisch-technischen Assistenten[5] und zum Diplomtheologen[6] im Fach ‚Evangelische Theologie‘.

Es erschüttert mich nicht wenig, wenn ich sehe, wie wenig von diesen wahrhaft guten und wichtigen Zielsetzungen übriggeblieben ist.

Die Schlamperei in Deutschland ist weit verbreitet und eine staatliche Aufsicht über so Vieles findet gerade nicht statt, wie z.B. im Wirecard-Skandal zu sehen ist.[7]

  1. Gute Gesundheitsversorgung

Sprichwörtlich gut war die Versorgung der breiten Bevölkerung mit guten Medikamenten und einer Sorgfalt, die insgesamt angemessen war.

Ich kann mich noch erinnern, wie sich ein guter Arzt geweigert hat, mich krank zu schreiben; ich wollte eine Klassenarbeit am nächsten Tag nicht mitschreiben. Als Simulant habe ich jedenfalls bisher keine Karriere machen können. Und das ist gut so.

Im letzten Jahr wollte ich mir eine Brille verschreiben lassen und den Kassenbeitrag kassieren. Die Augenärztin, die ich eigentlich schätze, schrieb tatsächlich leicht geschönte Werte auf. Gar nicht gut.

Eine anderer Allgemeinärztin hat sich für meinen zu hohen Blutdruck nicht weiter interessiert. Ich maß am Unterarm – und hatte traumatisch gute Werte, aber nur deshalb, weil das Gerät um ganze zwanzig Zähler falsch maß. Das hätte ihr bei regelmäßigen Kontrollen auffallen können. Irgendwie schon.

Wenn ich hier im nahen Klinikum Steglitz[8] Kranke besuche, bin ich immer wieder bestürzt, wie heruntergekommen, der ganze Bau ist. Meiner damaligen Nachbarin wurden ihre wenigen Habseligkeiten geklaut, weil beim Krankentransport von A nach B die Koffer vertauscht wurden. Als ich eine Krankenschwester daraufhin ansprach, wollte sie, dass ich es unter den Tisch fallen lasse.

Bei meinem eigenen Aufenthalt in einem anderen Krankenhaus[9] während einer Gehirnerschütterung, bei der es nur um Ruhe und Schlafen und Schlafen und Ruhe ankommt, packte man mich in ein Zimmer mit Schwerstverletzten von Skiunfällen.

Ich musste mich praktisch selbst entlassen, um dann zu Hause einen Dauerschlaf von genau drei Tagen zu absolvieren: die Zeit, die ich im Krankenhaus lag – und nicht schlafen konnte.

Diese Bedeutung ‚Krankenhaus‘ ist mir bisher nicht in den Sinn gekommen: Krank hinein und krank bleiben – das kann es nicht sein.

  1. Frauen sind lieb und hübsch

Eine ganze Kultur verlangt von ihren Trägern die Hingabe an den Kommerz. Und wer nicht mithalten kann, geht unter.

Der Mann ist heutzutage nicht mehr Ernährer und Beschützer, sondern bestenfalls Partner. Und die Frau nicht die Gebende und Liebende, die ihrem Mann und seinen Kindern den Haushalt führt und sie verwöhnt.

Lieb und brav sein, das passt nicht in die Landschaft. Nein, hart sein und sich nichts bieten lassen und dem anderen seine Grenzen aufzeigen.

Es sind zunehmend nur noch deutsche Mädchen, die sich attraktiv anziehen und kleiden – bis sie glauben, erwachsen zu sein.

Viele ausländische Frauen, die keine Mädchen mehr sind, zeigen uns, was wir Deutsche verloren haben: den weiblichen Liebreiz, die frauliche Sanftmut, die mütterliche Wärme.

  1. Katholische Kirche in einer Grundlagenkrise

Als ich damals kurz nach der Wende 1992 Theologie studierte, waren wir Christen immerhin geduldet.

So eine Art von Menschen mit Sozial-Fimmel (Nächstenliebe, halt!) und religiösem Touch. Irgendwie nett und harmlos.

Seit Al-Qaida und Osama Bin Laden hat sich das schlagartig geändert. Religionen müssen geprüft werden. Religionen sind nicht per se etwas für Leute mit romantischem Weltgefühl. Religionen können töten.

Sicher, Religionen töten manchmal. Fanatismus gibt auch mit christlicher Prägung. Sicher.

Und dennoch: in der Corona-Krise wurde uns Katholiken das Allerheiligste weggesperrt. Und es waren die eigenen Religionsbeamten, sprich staatlich bezahlte Kleriker, vom Bischof angefangen, die sich im vorauseilenden Gehorsam für die Gottesdienstverbote zu Ostern 2020 aussprachen und sie durchsetzten.

Wie krank muss eine Kirche sein, die sich selbst das größte Fest aller Zeiten, die Auferstehung Jesu, verbietet?

Gibt es dafür Worte? Nur solche abgrundtiefer Trauer: „Sie haben mir meinen Herrn weggenommen“[10] stellt Maria von Magdala fest.

  1. Die alte Ordnung ist zusammengebrochen

Die alte Pax Americana gibt es nicht mehr. Das zeigte nicht zuletzt der Sturm auf das Kapitol vor drei Tagen.[11]

Das Schwergewicht der Weltwirtschaft liegt nicht mehr freien Westen mit Nordamerika an seiner Spitze.

Ihr Motor liegt jetzt in Asien. Und es ist der gottlose Kommunismus in Rotchina, der unbegreiflich stark wie nie ist.

Niemand hatte China auf der Agenda, als der Weltkommunismus 1989 zusammenkrachte. Jeder dachte, China sei vom bolschewistischen Russland abhängig. Aber das war es ja nie.

Die bittere Wahrheit ist wohl: Rotchina ist so stark, weil alle guten christlichen Werte wie Fleiß, Anstand und Ehrlichkeit nichts mehr gelten.

So wie die Nazis glaubten, das Böse in den schlechten Rassen zu sehen, so glaubt der materialistisch korrumpierte Westen, sein Heil in der Technik zu sehen.

Und die Technik in Rotchina ist um Wellenlängen schon jetzt, nicht in allem, aber in der breiten Masse, besser als im ach so freien Westen.

Die Stärke Rotchinas ist die westliche Dekadenz in der Anbetung von Technik.

[1] Evangelische Elisabeth Klinik – Google Maps

[2] West-Berlin – Wikipedia

[3] Geschichte Berlins – Wikipedia

[4] Marie-Curie-Gymnasium Berlin Wilmersdorf – Home (mcg-berlin.de)

[5] Lise-Meitner-Schule Berlin – Oberstufenzentrum mit Schwerpunkt Chemie, Physik & Biologie (osz-lise-meitner.eu)

[6] Humboldt-Universität zu Berlin (hu-berlin.de)

[7] Wirecard – Wikipedia

[8] klinikum steglitz berlin – Google Suche

[9] erzgebirgsklinikum – Google Suche

[10] Joh 20,13b.

[11] Sturm auf das Kapitol in Washington 2021 – Wikipedia

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