Die FAZ und der Polexit

Offener Brief an die FAZ

Berlin, 9.Oktober 2021

Sehr geehrte Damen und Herren,

nachdem meine bisherige Lieblingszeitung Die Welt durch eine Heuschrecke namens KKR seit März 2019 zunehmend an Kraft und Substanz eingebüßt hatte, bin ich auf Ihre Zeitung umgestiegen. Ich habe es bisher nicht bereut. Die samstägliche Fraktur, z.B. von Berthold Kohler, ist ein Highlight der Woche – neben dem besten deutschen Comiczeichner Flix in der Montagsausgabe.

Als inzwischen Fünfundfünzigjähriger habe ich kursorisch und als jahrelanger Abonnent so ziemlich alles gelesen, was die Presselandschaft bietet: Die Wahrheit (yes, als SEW-Kommunist, ein Must-Have), taz, Der Tagesspiegel und Die Berliner Zeitung.

Ich entsinne mich, dass die FAZ in früheren Zeiten einmal eine Ausrichtung hatte, die der CDU mindestens wohlwollend gegenübergestanden hat: die CDU von Dregger, Kanther, Stoltenberg und auch meines West-Berliner Lieblingssenators Heinrich Lummer. Lang ist es her, als die Zeitungen sich zugutehielten, eine Ausrichtung und eine Meinung zu haben.

Manche Herausgeber wollen nicht nur Geld verdienen und neue Häuser bauen, sondern wollen der Wahrheit dienen im echten Meinungskampf der unterschiedlichen Stimmen: sowohl die Stimme der konservativen FAZ, die sich einmal äußerst kritisch gegenüber dem Anleihekauf-Programm der EZB äußerte, um die Schulden der Mitgliedsländer aufzukaufen, als auch den Meinungskampf, der den Gegner in ipsissima vox zu Wort kommen lässt.

Zu Deutsch: weder heute Mittag konnte ich durch die FAZ erfahren, was das Anliegen des polnischen Verfassungsgerichtes ist, noch konnte ich begreifen lernen, was die Beweggründe der sich wohl über Jahre hinziehenden Umgestaltung des Verfassungsgerichtes durch die konservative PiS ist.

Nebulös ist im Artikel in der heutigen Samstagsausgabe ‚Hat der Polexit begonnen?‘ von „Bestimmungen“ die Rede, die erst dann Widerspruch ermöglichen, wenn „die europäische Einigung eine ‚neue Etappe‘“ erreicht.

Es geht also gar nicht darum, dass das polnische Verfassungsgericht rundherum den Europäischen Vertrag ablehnt, sondern sich die EU dergestalt weiterentwickelt, dass wiederum die Frage entsteht: ist die Europäischen Union der Europäischen Verträge, z.B. von Maastricht 1992, die Europäische Union des Jahres 2021?

Diese Frage ist nicht nur legitim. Es die Frage aller Zeiten: die Auslegung stricte dicta oder die large dicta? Oder anders im Sinne der amerikanischen Verfassung gesagt: der Originalismus will die Verfassung nur im Rahmen der ursprünglichen Entstehungsgeschichte im engeren Umfeld gelten lassen, während z.B. Kontextualismus einer weiteren Auslegung zugängig ist.[1]

Ohne jeden Zweifel fallen dem aufmerksamen Leser einer jeden Zeitung folgende Tatsachen sofort ein.

  1. Maastrichter No-Bail-Out

Dem Buchstaben nach ist es nicht möglich, zu sagen, die Nicht-Beistandsklausel in Artikel 125 hätte irgendeine Geltung in der Europäischen Union des Jahres 2021.

  1. Gender-Mainstreaming

Erstmals im November 2020 verkündet die Europäische Union eine ‚Strategie zur Gleichstellung von LGBTIQ‘[2].

Im Jahre 1994 wurde in Deutschland die Strafbarkeit von Homosexualität, wie sie der Paragraf 175 geregelt hat, aufgeboben: zwei Jahre nach dem Vertrag von Maastricht.

  1. EZB und der Grüner Deal

Die Europäische Union steckt sich ein Klimaziel namens ‚Grüner Deal‘[3], und die Europäische Zentralbank darf dieses politische Ziel teilen.[4]

Aufgabe der EZB ist allerdings im Maastrichter Vertrag die Preisstabilität sowie die Unterstützung der EU-Wirtschaftspolitik[5], die klassischen Felder einer jeden Zentralbank: Politisch ist eine Staatsbank im Kommunismus.

  1. Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum EZB-Anleihekaufprogramm

Besonders eigenartig ist es, wenn die FAZ, die bisher die EZB-Anleihekaufprogramme zu Recht kritisch begleitet hat, unserem höchsten Gericht in den Rücken fällt und dessen Urteil als „das umstrittene EZB-Urteil“ bezeichnet, wie im heutigen FAZ-Artikel.

Im Klartext heißt dies: wenn es noch nicht mal möglich sein soll, zaghaft Rechenschaft ebendieser EZB einzufordern, wie dies unser Verfassungsgericht wünscht[6], gibt es letztlich keine Kontrollinstanz auf der Ebene der souveränen Nationalstaaten, die irgendeine Entscheidung von Brüssel in die Schranken weisen kann.

De facto und de iure hat sich also die EU-Kommission jeder Kontrolle selbst enthoben, denn es gibt de iure keine EU-Institution die ihren Richtern Einhalt gebieten kann und es gibt de facto keine Politiker, die kontrolliert werden könnten, denn das EU-Parlament ist keine Volksvertretung, da es kein Volk der Europäischen Union gibt.

Die Europäische Union zerfällt derzeit an ihren Rändern: die Westflanke mit Großbritannien besteht nicht mehr, und die Ostflanke mit Polen und Ungarn droht damit, nicht mehr zu bestehen. Einem jeden ernstzunehmenden deutschen Staatsbürger sollte das auffallen und in Erinnerung rufen, dass all dies nicht im deutschen Interesse sein kann. Großbritannien, Polen und Ungarn leisten sich eine eigene Währung und eine Wirtschaftspolitik, die sie unabhängig machen, eine Unabhängigkeit, die ehemals eine deutsche war.

Warum kann ich eine solche Analyse nicht in der FAZ lesen? Warum finde ich stattdessen den lächerlichen Aufruf zur Gegendemonstration für Sonntagabend im Warschauer Stadtzentrum?

Mit freundlichen Grüßen

Ihr

Stephan Gröne

[1] Vgl. Verfassung der Vereinigten Staaten – Wikipedia (abgerufen am 9.10.2021).

[2] Vgl. Erste Strategie überhaupt zur Gleichstellung von LGBTIQ in der EU (europa.eu) (abgerufen am 9.10.2021).

[3] Vgl. Europäischer Grüner Deal | EU-Kommission (europa.eu) (abgerufen am 9.10.2021).

[4] Vgl. EZB will Klimathemen künftig stärker berücksichtigen – EURACTIV.de (abgerufen am 9.10.2021).

[5] Vgl. Art. 127 AEUV – (ex-Artikel 105 EGV) – dejure.org (abgerufen am 9.10.2021).

[6] Vgl. Bundesverfassungsgericht – Entscheidungen – Beschlüsse der EZB zum Staatsanleihekaufprogramm kompetenzwidrig (abgerufen am 9.10.2021).

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