Von Vorhäuten und dem König der Könige
Berlin, 11.April 2022
Die Heilige Schrift der Christen umfasst zwei grundlegend verschiedene Bücher.
Das Alte Testament, die Heilige Schrift der Juden, ist hauptsächlich auf Hebräisch geschrieben, teilweise in Aramäisch. Hier ist es vor allen Dingen der Codex Leningradensis[1], der rund tausend Jahre nach Christus verfasst wurde. Dieser Kodex umfasst alle Bücher der Jüdischen Bibel, die Martin Luther übernahm[2]; dieser Kanon wiederum anerkennt viele Bücher nicht, die auf Griechisch verfasst wurden (z.B. Makkabäer, Weisheit Salomos, Jesus Sirach), die so genannten außerkanonischen Bücher der Lutherbibel.[3]
Das Neue Testament hat wiederum die Besonderheit, eine Zusammenstellung von vielen kleinen Texteinheiten zu sein: als ein Ganzes ist es in heutiger Gestalt nie vorhanden gewesen. Das wiederum ist ein Ausweis gewaltiger Stärke, denn es gibt insgesamt fünftausend Handschriften, die das griechische Neue Testament bezeugen. Wikipedia urteilt zu Recht: „Die handschriftliche Überlieferung des Neuen Testaments ist besser und umfangreicher als die jedes anderen antiken Literaturdenkmals.“[4]
So viel zum biblischen Text, der also zu behandeln ist, wie alle mit Buchstaben festgelegten Aussagen.[5] Zum Beispiel gibt es mindestens einen Satz im wichtigsten Brief des Völkerapostels Paulus an die Römer, der nicht von diesem geschrieben sein kann, buchstäblich: „Ich, Tertius, der Schreiber dieses Briefes, grüße euch im Namen des Herrn.“[6]
Die Bibel selbst gibt Zeugnis davon, dass einige Schriften, ja ganze Bücher und Briefe, nicht überliefert wurden. Im Alten Testament sind es z.B. die „Geschichte des Propheten Schemaja und des Sehers Iddo“[7] sowie die „Erläuterungen zum Buch der Könige“, die „weitere Nachrichten über seine Söhne, über die vielen Prophetensprüche gegen ihn und über die Wiederherstellung des Hauses Gottes“ enthalten.[8]
Im großartigen Buch der Psalmen können wir den Abschluss einer vorläufigen Sammlung von Gebeten des Königs David am Ende von Psalm 72 in Vers 20 lesen: „Zu Ende sind die Bittgebete Davids, des Sohnes Isais.“ Schon vierzehn Psalme später, in Psalm 86, heißt es allerdings in Vers 1a: „Ein Bittgebet Davids“.
Im Neuen Testament nennt Paulus in seinem Brief an die Kolosser einen Brief an die Gemeinde in Laodizäa[9] sowie den so genannten ‚Tränenbrief‘, der im ersten Korintherbrief erwähnt wurde.[10]
Kurz gesagt: jeder Leser der Bibel wird auf Schritt und Tritt feststellen, dass die Heilige Schrift Alten und Neuen Testamentes einer lebendigen Überlieferung ausgesetzt war. Sie selbst gibt Zeugnis sowohl von einem Verlust als von einem Wachstumsprozess der schriftlichen Überlieferung.
Warum also der Bibel über den Weg trauen?
Wenn klassische Heiden wie Adam und Eva sowie der klassische Jude Mose zusammen in einem Buch stehen, kann es keine echte Zensur geben, sondern eine Überlieferung, die mit Spannungen lebt. Denn Adam und Eva waren Heiden, weil sie unbeschnitten waren und aus dem Gebiet von Euphrat und Tigris, also aus Babylonien, stammten.[11]Der Prophet Mose wiederum ließ das Volk Israel in der Wüste beschneiden[12] und sorgte dafür, dass seine Nachfolger das verheißene Land mit grausamen Kriegen einnehmen würden – gegen den Widerstand der unbeschnittenen Heidenvölker Kanaans[13], der Philister[14] und der Ammoniter[15]; nur die Moabiter der israelitische Staat am Leben, indem es sie tributpflichtig machte.[16]
Und für das Neue Testament gilt das Gleiche: Jesus Christus ist für die Christen der Sohn Gottes, was damals nur ein kleiner Bruchteil von Juden glaubte: zunächst nur zwölf, seine Apostel nämlich. Und diese Apostel rannten allesamt weg, als der Messias, der Christus Gottes, auf Golgata gekreuzigt wurde, bis auf einen einzigen: Johannes.
Es wäre ein Leichtes für die noch junge Christenheit gewesen, sich vom Ballast eines dicken Buches in schwer verständlichen Sprachen, Hebräisch und Aramäisch, zu entledigen. Denn der Erfolg der jüdischen Sekte namens ‚Christen‘ lag nicht im Heiligen Land Israel, sondern im Griechisch sprechenden Kleinasien und Europa. Der Völkerapostel Paulus stürmte von Erfolg zu Erfolg.
Das Evangelium, die Frohe Botschaft der Sündenvergebung, war in Israel praktisch ein Blindgänger, zündete dann bei den Heidenvölkern Kleinasiens und Europas allerdings wie eine Atombombe.
Ja, es gibt gute Gründe, die Schriften des Alten und Neuen Testaments als heilige anzusehen – was sie allerdings erweisen müssen.
Der König David, der für die Heirat einer schönen Königstochter, hundert Vorhäute hätte vorweisen müssen, brachte glatt die doppelte Anzahl als Brautgabe: zweihundert Vorhäute – natürlich von unbeschnittenen Philistern, dem ärgsten Feind Israels.[17]
Und der Sohn des heidenhassenden Davids, Jesus Christus, ein echter Davide aus Juda in Bethlehem, ebenfalls ein beschnittener Jude, wird von den Christen als „König der Könige und Herr der Herren“[18] angebetet: wahrer Gott vom wahren Gott!
[1] Codex Leningradensis – Wikipedia (abgerufen am 11.4.22).
[2] Lutherbibel – Wikipedia (abgerufen am 11.4.22).
[3] Apokryphen – Wikipedia (abgerufen am 11.4.22).
[4] Textgeschichte des Neuen Testaments – Wikipedia (abgerufen am 11.4.22).
[5] Text – Wikipedia (abgerufen am 11.4.22).
[6] Röm 16,22.
[7] Vgl. II Chr 12,15.
[8] II Chr 24.27.
[9] Kol 4,16; vgl. Laodizenerbrief – Wikipedia (abgerufen am 11.4.22).
[10] I Kor 5,9; vgl. Apostolische Briefe – Wikipedia (abgerufen am 11.4.22).
[11] Babylonien – Wikipedia (abgerufen am 11.4.22).
[12] Das wissenschaftliche Bibellexikon im Internet :: bibelwissenschaft.de (abgerufen am 11.4.22).
[13] Kanaan – Wikipedia (abgerufen am 11.4.22).
[14] Philister – Wikipedia (abgerufen am 11.4.22).
[15] Ammoniter – Wikipedia (abgerufen am 11.4.22.)
[16] Moabiter – Wikipedia (abgerufen am 11.4.22).
[17] Vgl. I Sam 18,25-27.
[18] Offb 19,16.
