Amo ergo sum: sich verschenken um zu gewinnen
Berlin, 22.Juli 2022
Jesus lehrt uns: „Wer sein Leben zu bewahren sucht, wird es verlieren; wer es dagegen verliert, wird es erhalten.“(Lk 17,33; ὃς ἐὰν ζητήσῃ τὴν ψυχὴν αὐτοῦ περιποιήσασθαι ἀπολέσει αὐτήν, ὃς δ’ ἂν ἀπολέσῃ ζῳογονήσει αὐτήν.)
Im Folgenden soll über diesen christlichen Grundsatz nachgedacht werden.
- Die Goldene Regel Jesu erfordert Selbstliebe
Jesus fordert: „Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.“(Mt 22,39; ἀγαπήσεις τὸν πλησίον σου ὡς σεαυτόν.)
Wie diese Selbstliebe zu sehen ist, ist leicht verständlich: „Alles, was ihr wollt, dass euch die Menschen tun, das tut auch ihnen!“(Mt 7,12a; Πάντα οὖν ὅσα ἐὰν θέλητε ἵνα ποιῶσιν ὑμῖν οἱ ἄνθρωποι, οὕτως καὶ ὑμεῖς ποιεῖτε αὐτοῖς·)
In unserer eigenen Selbstliebe geht es nicht um die unendliche Selbstbespiegelung unserer Wünsche, sondern um das, was gerechterweise „die Menschen“ für uns tun würden: es geht um den Grundsatz ausgleichender Gerechtigkeit des ‚So du mir, so ich dir‘.
- Liebe zu Eltern: Viertes Gebot
Paulus schreibt in seinem Brief an die Epheser: „Keiner hat je seinen eigenen Leib gehasst, sondern er nährt und pflegt ihn“(Eph 5,29a; Οὐδεὶς γάρ ποτε τὴν ἑαυτοῦ σάρκα ἐμίσησεν ἀλλ’ ἐκτρέφει καὶ θάλπει αὐτήν ).
Jeder Mensch stammt bis zum heutigen Tag von seinen biologischen Eltern ab: von einer männlichen Samenzelle und einem weiblichen Ei.
Streng genommen muss sich also die Selbstliebe auf diejenigen erweitern, die uns das Leben geschenkt haben.
- Liebe zu Ehefrau: Sechstes Gebot
Jesus lehrt uns, wie Mann und Frau in der Ehe zueinanderstehen: „Darum wird der Mann Vater und Mutter verlassen und sich an seine Frau binden und die zwei werden ein Fleisch sein? Sie sind also nicht mehr zwei, sondern ein Fleisch. Was aber Gott verbunden hat, das darf der Mensch nicht trennen.“(Mt 19,5f; νεκα τούτου καταλείψει ἄνθρωπος τὸν πατέρα καὶ τὴν μητέρα καὶ κολληθήσεται τῇ γυναικὶ αὐτοῦ, καὶ ἔσονται οἱ δύο εἰς σάρκα μίαν ὥστε οὐκέτι εἰσὶν δύο ἀλλὰ σὰρξ μία. ὃ οὖν ὁ θεὸς συνέζευξεν ἄνθρωπος μὴ χωριζέτω.)
Die Verbindung von Mann und Frau in der Ehe schafft Nachkommen: ein männlicher Leib verbindet sich mit dem weiblichen Leib zu einer geschlechtlichen Gemeinschaft.
- Liebe zu Nachkommen: Fünftes Gebot
Das entstehende Kind ist Fleisch vom Fleisch seiner Eltern; es wird also von den eigenen Eltern als ihr eigenes Fleisch geliebt.
Zugleich erfüllt sich der Wunsch der Eltern nach Absicherung ihres Lebens im Alter im Generationsvertrag: die Kinder sorgen für die Alten.
Niemand wird seine eigenes Fleisch hassen, sondern das menschliche Geschlecht braucht sowohl die Eltern als auch die Kinder: „die Kinder [sind] von Fleisch und Blut“(Hebräer 2,14a; τὰ παιδία κεκοινώνηκεν αἵματος καὶ σαρκός ).
Abtreibung ist Mord und mit der Selbstliebe nicht zu vereinbaren.
- Theologie und Philosophie
Jesus wünscht sich von seinen Jüngern: „Ein neues Gebot gebe ich euch: Liebt einander! Wie ich euch geliebt habe, so sollt auch ihr einander lieben.“(Joh 13,34; Ἐντολὴν καινὴν δίδωμι ὑμῖν, ἵνα ἀγαπᾶτε ἀλλήλους, καθὼς ἠγάπησα ὑμᾶς ἵνα καὶ ὑμεῖς ἀγαπᾶτε ἀλλήλους. )
Denn Gott ist Liebe höchstselbst: „Gott ist Liebe, und wer in der Liebe bleibt, bleibt in Gott und Gott bleibt in ihm.“(I Joh 4,16b; Ὁ θεὸς ἀγάπη ἐστίν, καὶ ὁ μένων ἐν τῇ ἀγάπῃ ἐν τῷ θεῷ μένει, καὶ ὁ θεὸς ἐν αὐτῷ μένει. )
- Amo ergo sum
Sich selbst zu lieben, ist die höchste Intuition, die selbst nicht größer sein kann. Sie ist größer als das menschliche Denken selbst und übersteigt Descartes Diktum Cogito ergo sum: „Ich denke, also bin ich“[1].
Und die recht verstandene Liebe hält alle Gebote Gottes, so dass der heilige Thomas von Aquin feststellt: „Also ist die Liebe, im Sinne der Nächstenliebe, die Form des Glaubens.“[2]
- Liebe: Grundgesetz jeder Gesellschaft
Das lateinische Wort für Gesellschaft ist societas und besteht also aus socii, Gefährten. Eine jede Gesellschaft, egal, ob Kapitalismus oder Sozialismus, muss die einzelnen Gesellschaftsmitglieder achten.
Um die Gefährten zu achten, ist es sinnvoll, ihnen Gutes zu tun: sie also am Leben zu erhalten und ihnen zu geben, was sie benötigen, wie es gegenseitige Gerechtigkeit verlangt.
Das ist es, was Aristoteles meint: liebende Freunde „wollen uns Gutes tun“[3].
Jesus erweitert den Begriff der Freundschaft, indem ER alle Menschen zu Freunden erklärt: „Ihr seid meine Freunde, wenn ihr tut, was ich euch auftrage.“(Joh 15,14; ὑμεῖς φίλοι μού ἐστε ἐὰν ποιῆτε ἃ ἐγὼ ἐντέλλομαι ὑμῖν.)
- Fazit
Sich selbst hinzugeben, ist das Grundgesetz jeder Gesellschaft: es ist die Liebe. Jesus bringt sich selbst als Opfer am Kreuz von Golgatha, um uns selbst zu uns selbst zu bringen, nämlich um den Menschen zum Menschen zu machen.
Denn von der Liebe zu Gott und Seinen Menschen trennt uns unsere eigene Sünde. Die christliche Menschlichkeit ist nichts Anderes als diejenige, die den Menschen zu sich selbst zurückbringt.
Das heilige Zweite Vatikanische Konzil formulierte es in seiner Pastoralkonstitution Gaudium et Spes so: „der Mensch [kann] sich selbst nur durch die aufrichtige Gabe seiner selbst vollständig finden“[4](GS 24,3: „hominem […] seipsum invenire non posse nisi per sincerum sui ipsius donum“).
[1] Rene Descartes, Discours de la Méthode, reclam UB18100, Ditzingen 2019, 65.
[2] Thomas von Aquin, Glaube, Liebe, Hoffnung, herausgegeben und übersetzt von Matthias Hackemann, Köln 2007, 74.
[3] Aristoteles, Rhetorik B, 4,14; zitiert nach: reclam UB19397, Ditzingen 2018, 169.
[4] Gaudium et Spes, zitiert nach: Dokumente des II.Vatikanischen Konzils, Lateinisch-Deutsch, hg. v. Peter Hünermann, Freiburg-Basel-Wien 3.Aufl. 2012, 626.
