Nächstenliebe und Gesellschaft

Proximus und Socius

Berlin, 6.August 2022

  1. Vorbemerkung

Auf dem Foto vom 26.Juni 2022 ist ein Einkaufswagen zu sehen, den ein Vandale vor eine Verkehrsinsel inmitten einer vielbefahrenen Auffahrt zur Berliner Stadtautobahn stellte. Der Ort ist Wolfensteindamm, Ecke Schlossstraße.

Im Folgenden geht es um den Unterschied von Nächstenliebe und Freundschaft.

  1. Definition der Liebe

Aristoteles meint: Liebende „wollen uns Gutes tun“[1]. Das Gute für einen Menschen kann allgemein als alles gesehen werden, das zu dessen Lebenserhaltung dient.

  1. Proximus: Individuelle Reflexivität

Jesus will, dass wir unseren Nächsten (proximus) lieben: „Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.“(Mt 22,39b; ἀγαπήσεις τὸν πλησίον σου ὡς σεαυτόν.)

Wie dies geschehen soll, lehrt uns die Goldene Regel Jesu aus der Bergpredigt: „Alles, was ihr wollt, dass euch die Menschen tun, das tut auch ihnen!“(Mt 7,12a; Πάντα οὖν ὅσα ἐὰν θέλητε ἵνα ποιῶσιν ὑμῖν οἱ ἄνθρωποι, οὕτως καὶ ὑμεῖς ποιεῖτε αὐτοῖς· )

Damit ist vorausgesetzt, dass eine gesunde Selbstliebe von Gott durchaus gewünscht ist. Und: den Maßstab für die Nächstenliebe tragen wir in uns selbst – es ist unsere Selbstliebe, die wir gerechterweise üben.

Und wir sollen unserem Nächsten Gutes tun, weil unser Nächster ebenso gut ist, wie wir selbst.

Das gilt auch für die Bösen: „Liebt eure Feinde und betet für die, die euch verfolgen, damit ihr Kinder eures Vaters im Himmel werdet; denn er lässt seine Sonne aufgehen über Bösen und Guten und er lässt regnen über Gerechte und Ungerechte. Wenn ihr nämlich nur die liebt, die euch lieben, welchen Lohn könnt ihr dafür erwarten? Tun das nicht auch die Zöllner?“(Mt 5,44b-46; ἀγαπᾶτε τοὺς ἐχθροὺς ὑμῶν καὶ προσεύχεσθε ὑπὲρ τῶν διωκόντων ὑμᾶς, ὅπως γένησθε υἱοὶ τοῦ πατρὸς ὑμῶν τοῦ ἐν οὐρανοῖς, ὅτι τὸν ἥλιον αὐτοῦ ἀνατέλλει ἐπὶ πονηροὺς καὶ ἀγαθοὺς καὶ βρέχει ἐπὶ δικαίους καὶ ἀδίκους. ἐὰν γὰρ ἀγαπήσητε τοὺς ἀγαπῶντας ὑμᾶς, τίνα μισθὸν ἔχετε; οὐχὶ καὶ οἱ τελῶναι τὸ αὐτὸ ποιοῦσιν;)

Wenn ich mich im Rahmen meiner Selbstliebe selbst annehme und meine eigenen Interessen erkenne, bin ich fähig, gerechterweise die Interessen meines Nächsten wahrzunehmen und ihm Gutes zu tun.

Der Nächste ist nicht der Fernste, den ich im Fernsehen sehe, sondern derjenige, der mir auf meinem individuellen Lebensweg begegnet: „Zufällig“ und „denselben Weg“ nehmend (Lk 10,31a; συγκυρίαν […] ἐν τῇ ὁδῷ).

Der Gesichtskreis der Nächstenliebe liegt nicht in der Hand desjenigen, der die Nächstenliebe üben soll, sondern in der Lebensführung Gottes.

Potentiell können alle Menschen mein Nächster sein. Und allen Menschen gilt die gleiche Liebe. Selbst die Feinde sollen geliebt werden.

  1. Socius: partielle Reziprozität

Das Wort ‚sozial‘ kommt aus dem Lateinischen für socius: Gefährte.[2] Um eine Gesellschaft zu bilden, braucht es Gefährten, die sich zusammenfinden aufgrund von Gegenseitigkeit.

Diese Gegenseitigkeit (Reziprozität), die ebenfalls für den Freundschaftsbegriff tragend ist, findet sich nicht im Verhältnis zu den Bösewichten.

Und diese Gegenseitigkeit hat ihre natürliche Grenze in der Andersartigkeit der menschlichen Interessen: die Partei der Pizza-Esser steht den Freunden der asiatischen Küche gegenüber.

Das Wort ‚Partei‘ kommt aus dem lateinischen Wort für Teil: part.[3] Die Meinungsbildung innerhalb von Parteien geschieht wiederum durch Mehrheitsmeinung.

  1. Der Unterschied von Proximus und Socius

So eigenartig es scheint: die Aufforderung Gottes zur Nächstenliebe führt zur Bildung von Individualität, die andere Individuen, nämlich den Nächsten, wahrnimmt.

Der Freundschaftsbegriff allein führt letztlich, auf die gesamte Gesellschaft übertragen, zur Diktatur der Mehrheit.

  1. Fazit

Kurz und knapp: Nächstenliebe beinhaltet ebenfalls, dem Bösewicht den Popo abzuwischen, also einem Vandalen die Entwendung fremden Eigentums nachzusehen und die Kriminalpolizei nicht einzuschalten.

Die reine Freundschaftsliebe führt zu Spaltungen und letztlich zum Bau von Gefängnissen.

[1] Aristoteles, Rhetorik, B, 4,14.

[2] Vgl. sozial – Wikipedia (abgerufen am 6.8.22).

[3] Vgl. Politische Partei – Wikipedia (abgerufen am 6.8.22).

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