Über die Paradoxien von Zeit und Raum
Berlin, 24.September 2022
Wir Christen in Old Europe merken gar nicht mehr, wie uns das Wasser bis zum Halse steht, weil wir aufgehört haben, über die Ewigkeit nachzudenken.
Wie radikal war da doch der heilige Völkerapostel Paulus, der doch glatt behauptet hat: „Denn der Buchstabe tötet, der Geist aber macht lebendig.“(II Kor 3,6b: τὸ γὰρ γράμμα ἀποκτέννει, τὸ δὲ πνεῦμα ζῳοποιεῖ.)
Wenn wir logisch überlegen, tun wir es in Raum und Zeit.
- Raum
Laut meinem heiß geliebten ‚Wörterbuch der philosophischen Begriffe‘ von Johannes Hoffmeister (Hamburg 1998) ist der Raum „das nicht Ausgefüllte (vgl. räumen!), ‚freier Platz‘, als leer vorgestellter Raum“[1].
Wenn ich also sage, ein Gegenstand nehme einen bestimmten Raum ein und die Lage des Raumes bestimme, sage ich eigentlich etwas zutiefst Paradoxes.
Denn wenn ich sage, etwas sein in einem konkreten Raum, dann umfasst dieser doch „das nicht Ausgefüllte“, also kann ein Raum nicht einen anderen Inhalt haben als „leer“.
Wenn ich also einen Gegenstand bestimme und ihm einen Raum zu weise, muss ich einen Widerspruch dulden: ich sage, etwas sei in einem Raum, der doch eigentlich leer ist. Das geht nicht zusammen.
- Zeit
Der schon genannte Hoffmeister schreibt über die Zeit: „‘teilen‘, zerschneiden, urspr. wie lat. tempus (vgl. gr. temnein ‚abschneiden‘) bez. bei einer Abfolge von Ereignissen (im Unterschied vom Raum, dem Nebeneinander) das Nacheinander in einer nicht umkehrbaren Richtung.“[2]
Um eine Zeit anzugeben, muss für einen Gegenstand ein Zeitpunkt angegeben werden. Wir reden bei der Zeit von der Aufeinanderfolge von Zeitpunkten: „Die kleinste wahrnehmbare Zeiteinheit ist der Moment.“[3]
Und: „Zeit wird aufgefasst als homogenes, teilbares Kontinuum“[4].
Wenn ich also einem Gegenstand eine Zeit zuordne, muss ich diesem Gegenstand einen Punkt im Zahlenstrahl der Zeit zuordnen. Ich muss diesen Gegenstand aus dem Gesamt seiner Zeit herausnehmen, um ihm einen Zeitpunkt zuzuordnen.
Oder anders gesagt: ich muss das zerteilen, von dem ich behaupte, es sei ein Kontinuum.
Wenn ich also einem Gegenstand eine Zeit zuordne, sage ich gerade das Gegenteil, indem ich behaupte, es sei nicht Teil eines Kontinuums, denn es geht ja nicht um das Ganze, sondern um einen Punkt, den Zeitpunkt.
Wer aber kann von dem, was extra zerteilt worden ist, behaupten wollen, es sei ein Ganzes, ein Kontinuum?
- Crux interpretum
Versuchen wir zu verstehen, wo genau die Schwierigkeit liegt. Es geht nicht alleine um philosophische Probleme, sondern um die Möglichkeit von Verständigung überhaupt.
Nehmen wir als Beispiel das so genannte Bewegungsparadox des Zenon von Elea: „Das Bewegte bewegt sich weder in dem Raume, in dem es ist, noch in dem Raume, in dem es nicht ist.“[5]
Wenn wir mittels Zeichen, also Buchstaben, genau das Gegenteil von dem aussagen, was wir eigentlich meinen, dann können wir eigentlich nicht Aussagen treffen, sondern stiften Verwirrung.
Oder anders gesagt: wenn wir mittels Buchstaben nicht ausdrücken können, was wir meinen, muss es etwas in unserem Verstand geben, weswegen wir dennoch zum Verständnis gelangen können.
Jeder Mensch weiß, was ‚Bewegung‘ ist, auch wenn wir mittels Buchstaben nicht fähig sind, uns adäquat auszudrücken.
Wie in einem Fernsehfilm ‚sehen‘ wir Bewegung, obwohl es sich bei einem Film nur um die Abfolge bewegter Einzelbilder handelt.
Oder anders gesagt: die Abfolge von Einzelereignissen bewirkt den Eindruck von Bewegung, weil wir ein intuitives Wissen von Bewegung haben.
Wir erinnern uns quasi an etwas, das uns bekannt ist, obwohl die Buchstaben das Gegenteil ausdrücken.
Aber warum stimmen wir mit einer bestimmten Aussage überein, was die Buchstaben zu sagen scheinen, auch wenn sie buchstäblich das Gegenteil ausdrücken?
- Intuition ist Geist
Alle Menschen wissen, was Bewegung ist. Sie ist Teil der menschlichen Wahrnehmung. Wie ein Auto sich bewegt oder ein Fahrrad oder ein Pfeil, ist jedem sehenden Auges bekannt.
Nur wenn wir z.B. die Bewegung eines Pfeiles in Buchstaben beschreiben möchten, verstricken wir uns in Widersprüche.
Um den Sinn einer Aussage ‚verstehen‘ zu können, müssen wir zu der Auffassung gelangen, es sei Bewegung möglich.
Dem Buchstaben nach ist Bewegung als zeichenhafte Aussage nicht möglich: das Bewegte bewegt sich ja buchstäblich weder an dem Ort, an dem es ist, noch an dem Ort, an dem es nicht ist.
Es ist unser menschliches Vorstellungsvermögen, unser Geist, der die Aussagen über die Bewegung des Pfeiles anerkennt, also quasi bewahrheitet. Die Aussage über Bewegung an und für sich ist nicht glaubhaft, weil sie das Gegenteil behauptet.
- Geist und Buchstabe
Oder anders gesagt: wir müssen dieselbe Intuition teilen, damit unser Geist dem fremden Buchstaben Glauben schenken kann.
Buchstaben alleine töten, nur der Geist macht lebendig, wie es Paulus schon meinte.
[1] Seite 548: siehe Titelfoto.
[2] Seite 747.
[3] Ebd.
[4] Ebd.
[5] Pfeil-Paradoxon – Wikipedia (abgerufen am 24.9.22).
