Mein persönliches Magnificat
Berlin, 23.Dezember 2023
Gestern hat uns Pater Joseph von den Vinzentinern in der Berliner Kirche St. Clemens gefragt, ob wir unseren persönlichen Lobpreis, unser Magnificat, aufgeschrieben haben. Alle, die es aufschreiben wollten, sollten die Hand heben, was ich ebenfalls getan habe.
Als ich noch Mitglied der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) war, habe nie die Tiefe verstanden, warum die Seligpreisungen Jesu wahr sind.
Seit reichlich sechszehn Jahren lerne ich als Katholik meinen Herrn und Meister Jesus mehr und mehr zu lieben. Es ist die Liebe zu Gott, die mich Jesu Lehre verstehen lehrt.
Die großartige Wahrheit des Evangeliums ist, dass wir Christen die einzigen Menschen auf der Welt sind, die immer und unter allen Umständen glücklich sein können.
- Selig sind die geistlich Armen
Seit gut zwanzig Jahren arbeite ich in der Callcenter-Branche. Callcenter sind bekannt für ihre schlechte Bezahlung und miserable Schulung. Wir wissen nicht, was wir tun sollen und warum.
Wer Produkte am Telefon verkaufen soll, die er nicht kennt, ist bitterarm. Es sind nicht selten die Kunden selbst, die die nötigen Informationen für die Produkte geben, die der Callcenter-Agent verkaufen soll.
Wir Callcenter-Agenten betteln alle Menschen um Hilfe an: Kunden, Kollegen und Vorgesetzte.
Wer in der Callcenter-Branche arbeitet, lernt durch das Betteln die Demut kennen. Wir können nämlich nicht stolz auf uns sein, weil es keinen Grund gibt.
Aber wer nichts hat, dem kann auch nichts genommen werden. Wer ganz unten steht, hat einen festen Stand, denn ob das Betteln gelingt, hängt von Gott allein ab.
Viele Kollegen sind keine Schafe, sondern reißende Wölfe. Und viele Kunden wollen nicht am Telefon belästigt werden.
Wenn also ein Callcenter-Agent etwas weitergibt, das ihm nicht gehört, weil er es erbettelt hat, so bleibt er demütig.
Gott allein schenkt das Überleben in der trostlosen Sklaverei von Callcentern. Nirgendwo ist es so leicht, die eigene intellektuelle Armut zu erleben, die zugleich eine große geistliche Not ist.
Wer Produkte verkaufen soll, die er nicht versteht, braucht einen Verbündeten: Gott. So führt die äußere Armut zur Offenbarung der inneren Not.
Sicher wurden in keiner anderen Branche mehr Gebete gemurmelt als in der Callcenter-Branche.
- Selig sind die Trauernden
Die Callcenter-Branche gehört zum so genannten abgehängten Prekariat, also zu der Zwei-Drittel-Gesellschaft, die die Drecksarbeit in Deutschland verrichtet.
Meist geht es um Produkte und Dienstleistungen von Firmen, die nur auf Profit aus sind und gar kein Interesse daran haben, was die Menschen mit ihren Produkten und Dienstleistungen anfangen können.
Und so haben sie gar kein Interesse an gut ausgebildeten Mitarbeitern, die ihre Produkte und Dienstleistungen anbieten.
Die Callcenter-Agenten sind die letzten Glieder der Vertriebskette. Es gilt das Sprichwort ‚Den Letzten beißen die Hunde‘.
Vielen Kunden zeigen den Callcenter-Agenten, was sie von ihnen halten, nämlich so gut wie nichts. Sie machen schnippische Bemerkungen, legen auf oder beschweren sich.
Dieser Kreuzweg führt unmittelbar zu Jesus, der genau diesen Weg zuerst gegangen ist. Ja, es ist echt traurig, in einer schlimmen Branche zu arbeiten. Und es ist echt schön, dabei umso mehr bei Jesus zu landen.
Traurigkeit trennt nicht von Gott, sondern führt zu IHM hin, denn ER tröstet uns unermesslich.
- Selig sind die Sanftmütigen
Wer Produkte und Dienstleistungen vertreiben soll, die er nicht kennt, bleibt vorsichtig. Immer gibt es etwas zu lernen. Jeder Tag gibt neue Informationen preis.
Manchmal sind es unverhofft die eigenen Kollegen, die uns korrigieren, wenn wir falsch liegen, weil sie uns zu hören.
Manchmal sind es Kunden, die eine andere Meinung vertreten, die wahrscheinlich wahr ist.
Manchmal gibt eine Qualitätskontrolle, die die eigene Meinung in den Boden stampft, weil man jahrelang etwas ganz Falsches zum Besten gegeben hat.
Ja, nicht selten ist das, was man hoch und heilig für wahr gehalten hat, einfach falsch.
Im Vertrieb zählt die Wahrheit nicht, sondern die Verkaufsquote.
Nur wer sanftmütig bleibt und dem Neuen aufgeschlossen, kann die gewaltigen Demütigungen verkraften, die jeder in der Callcenter-Branche erfahren muss.
Wer überleben will, muss sanft werden und sich etwas anhören können, mögen die Vorwürfe noch so falsch sein.
Es ist die Sanftmut, die das Überleben sichert, weil sie zur Offenheit der Wahrheit gegenüber führt. Nur die Sanften wollen die ganze Wahrheit wissen, die Gott ist.
- Selig, die hungert und dürstet nach der Gerechtigkeit
Wer allen Unbilden der Gesellschaft ausgesetzt ist, der erfährt viel Ungerechtigkeit.
In der Callcenter-Branche erfährt jeder Mitarbeiter, wo er geradesteht. Sein Ranking liegt jedermann offen.
Buchstäblich jeder Seufzer wird aufgezeichnet: ob ich gehe oder stehe oder in der Pause oder der Toilette bin. Wie lange ich rede oder auf Nachbearbeitung, alles ist statistisch erfasst und Teil einer Verwertung.
Nein, es gibt nichts, was nicht von Computerprogrammen erfasst wird, wer sich am Computer angemeldet hat und mit dem Headset online geht.
Nur die Gedanken sind frei, es sei denn, man verplappert sich am Telefon oder ist unfreundlich oder gedankenlos.
Nirgendwo ist der Schrei nach Gerechtigkeit wohl größer als in der Callcenter-Branche, in welcher Menschen seelenlos zu Befehlsempfängern von Ausbeutern gemacht werden.
Wer wie wir aber die Ungerechtigkeit so gnadenlos spürt, für den ist der Schrei nach Gerechtigkeit so überaus lieblich.
Nur diejenigen, die abstumpfen, verlieren den Sinn für Gerechtigkeit. Ja, wir Callcenter-Agenten hungern und dürsten nach Gerechtigkeit und lieben Gott, weil ER im Endgericht die Bösen bestrafen wird.
- Selig die Barmherzigen
Wer in der Callcenter-Branche arbeitet, ist umgeben von Menschen: vor allen Dingen am Telefon, aber auch gleich nebenan die Kollegen.
Im größten Raum meiner alten Firma waren es hundert (100!) Plätze: wie Hühner in einer Legebatterie. Selbst bei fünfzig (50!) Kollegen ist der Lärm unerträglich.
Ganz klar ist: einen festen Arbeitsplatz gibt es dort nicht. Ein ständiger Kampf um vermeintlich beste Plätze ist im Gange. Wer zuerst kommt, mahlt zuerst. Und wem es nicht gelingt, eine gute Atmosphäre um sich herum zu schaffen, hat keinen Bestand.
Ständig wechseln die Kollegen, die man sieht, zum Teil durch den Schichtbetrieb, zum Teil durch ständig neue Leiharbeiter.
Neue Gesichter um und um, das ist der nackte Wahnsinn, denn mit jedem Kollegen gibt es neue Gewohnheiten und neue Eigenheiten.
Wer nicht sozial verträglich ist, kann ein Callcenter nicht lange aushalten. Nur Menschen, die ausgeglichen und geistig gesund sind, halten so etwas durch.
Callcenter gleichen menschlichen Durchlauferhitzern: die Menschen werden schnell hereingezogen, aufgewärmt und wieder ausgespuckt.
Wer überleben will, muss barmherzig sein und vergeben können, jeden Tag neu. Wer lernen möchte, wo Barmherzigkeit gebraucht wird, wie das tägliche Brot, muss in der Callcenter-Branche arbeiten, weil nur in der Vergebung Leben möglich ist.
- Selig, die reinen Herzens sind
Wer jeden Tag das Chaos bändigen muss, weil selbst der Kampf um den eigenen Sitzplatz nicht sicher ist, der muss vergeben können.
Vergeben für denjenigen, der den Sitzplatz genommen hat, vielleicht aus Unwissenheit. Vergebung für das Callcenter, die solche miesen Arbeitsbedingungen geschaffen hat.
Und vor allen Dingen Vergebung für die armen Kunden, die reichlich ungefiltert am Telefon hören können, wieviel Streit und Kampf es um den Callcenter-Agenten herum gibt, nämlich in den Hintergrundgeräuschen.
Manchmal ist der Kopfhörer so defekt, dass ein Gespräch mit dem Kunden kaum möglich ist. Manchmal sind es reine Voice-over-IP-Gespräche, die eine Sprachqualität wie auf dem Wochenmarkt haben.
In den Kundengesprächen tauchen viele Fragen auf, die niemals geschult worden sind.
Wer nicht offen und ehrlich den Kunden antworteten kann, muss zum Lügner werden. Wer aber lügt, kann dem Druck später nicht standhalten.
Nur wer sich dem eigenen Unvermögen stellt, kann reinen Herzens den Kunden antworten.
Und nur wer reinen Herzens ist, bleibt bestehen, denn sein Charakter verdirbt nicht.
- Selig die Friedensstifter
Wer Menschen begegnen möchte, braucht Offenheit. Wer nicht offen ist, der wird zum Zyniker.
Ja, es gibt Techniken für die Gesprächsführung. Und es gibt so genannte Wordings, also geprägte Formeln für eigentlich Nichts, nämlich nur heiße Luft.
Niemand kann immer authentisch sein. Niemand kann immer freundlich sein. Frieden zu stiften bedeutet immer, um den eigenen Seelenfrieden zu kämpfen. Und die eigene Unfreundlichkeit als Sünde zu erkennen. Wer versucht, den eigenen Seelenfrieden unter allen Umständen zu erhalten, der ist fähig, selbst Frieden zu stiften.
Wer die Gefahren für den eigenen Frieden erkennen kann, kann um den Frieden um sich herum kämpfen.
Wer mit dreißig, vierzig und mehr Menschen in einem Raum wie einer Lagerhalle auskommen will, braucht Frieden.
Hass führt zu Kampf und Streit. Und die eigenen Kollegen brauchen nichts mehr als Frieden. Wenigstens nicht mit den eigenen Kollegen kämpfen zu müssen, spart dringend benötigte Kraft.
Frieden zu geben und Frieden zu stiften, sind in einem Arbeitsraum von vielen Dutzend Menschen überlebenswichtig. Nur die wahren Kinder Gottes sind zum Frieden fähig. Ohne Jesus gibt es keinen Frieden.
- Fazit
Jesus selig zu preisen, ist in der Callcenter-Branche leicht. Jesus, mein Meister, ich danke dir von ganzem Herzen, dass DU mich immer gut führst – auf welchen Wegen immer!
