Warum die Nächstenliebe das ‚Salz der Erde‘ ist
Berlin, 29.Oktober 2022
Um am Sonntag eine gute Tat zu vollbringen, habe ich seit einigen Jahren das Hobby, herrenlose Einkaufswagen zurückzubringen. Um genau zu sein, geht es um die kriminelle Handlung, mit Waren beladene Einkaufswagen zum eigenen Haus zu schieben, die Waren zu entnehmen und das fremde Eigentum, den Einkaufswagen, nicht wieder zurückzubringen.
Im ganzen Jahr 2021 waren es 56. In diesem Jahr sind es einschließlich des 23.10.22 schon 78. Das Planquadrat zwischen Hindenburgdamm/Albrechtstraße und Klingsorstraße/Schlossstraße ist weniger als 0,7 Quadratmeter groß (900m mal 750m).
Im letzten Jahr in dieser Zeit waren es 34 Einkaufswagen, es geht um mehr als die doppelte Anzahl an kriminellem Vandalismus – unter den Augen tausender Nachbarn.
Wir reden von Steglitz-Zehlendorf, dem statistisch reichsten Berliner Bezirk, also nicht Bezirken wie Neukölln und Wedding.
Wie kommt es, dass innerhalb von einem Jahr, die Nachbarschaft von nicht einmal einem Quadratkilometer so furchtbar moralisch verkommt?
- Bürgergesellschaft: „Jeder hat das Recht auf Leben“
In unserem Grundgesetz steht, dass ein jeder Bürger „das Recht auf Leben“ hat. Es handelt sich um Artikel 2, Absatz 2.
Das ist der Grundsatz, auf dem Artikel 1, Absatz 1 beruht: „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.“
Man kann also sagen: das Leben eines jeden deutschen Staatsbürgers ist an und für sich schützenwert. Daraus folgt, dass es auch am Leben erhalten werden soll.
Im Artikel 14, Absatz 2 heißt es: „Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen.“
Letzten Endes heißt dies: es ist genug für alle da, so dass alle Bürger Deutschlands leben können.
Daraus folgt also, dass unser Verfassungsstaat zugleich auch ein Sozialstaat sein muss.
- Alle Bürger sind gleich, aber manche sind gleicher
Aufgrund der gegebenen Gleichheit lautet ein anderer Grundsatz des Verfassungsstaates: „Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich.“ (Artikel 3, Absatz 1; ius respicit aequitatem).
In der Fabel von George Orwell ‚Farm der Tiere‘ heißt es von den Schweinen: „Alle Tiere sind gleich, aber manche sind gleicher.“[1]
In dem Beispiel der Einkaufswagen ist deutlich zu sehen, dass es einige gibt, die gesetzestreu sind und andere, die das Recht brechen.
- Bürger 1.Klasse und andere Klassen
Rein statistisch gab es 2021 in Deutschland eine Bevölkerung von 81,88 Millionen[2]: darunter sind 13,86 Millionen Minderjährige[3], Schwerbehinderte 7,8 Millionen[4], Anzahl der Pflegebedürftigen 4,13 Millionen[5] und 44.588 Gefängnisinsassen[6].
Sicher kann ein Minderjähriger auch ein Pflegedürftiger sein, der im Gefängnis sitzt, so dass diese statistischen Zahlen nur eine Art Problemanzeige sein sollen.
Und doch lässt sich sagen, dass sich ungefähr ein Drittel der Gesellschaft durch verschiedene Umstände, sei es des Alters, der Gesundheit oder des Lebenswandels, am Rande der Gesellschaft befindet.
Ungefähr ist es eigentümlicherweise genau das Drittel, das wohl keine Einkaufswagen schieben kann, weil zum einen das Geld, die Gesundheit und äußere Grenzen das Einkaufen schlichtweg verhindern.
Wohlgemerkt: von den vielen Zehntausend Augen im Planquadrat Hindenburgdamm/Albrechtstraße und Klingsorstraße/Schlossstraße sind es genau diese Bevölkerungsschichten nicht, die in dieser Hinsicht kriminellen Vandalismus verüben können.
Oder anders gesagt: wie verkommen müssen die Zehntausend Augen sein, die bewusst das Unrecht geschehen und die herrenlosen Einkaufswagen stehen lassen?
- Wo kein Kläger ist, da ist kein Richter
Der Grundsatz ist ganz einfach: wenn alle Bürger gleich vor dem Recht sind, ist die Voraussetzung natürlich, dass alle Bürger gleich gut sind.
Gibt es eine kritische Masse an Bürgern, die sich für kriminelle Handlungen entscheiden und betont bei solchen wegschauen, ist es nicht möglich, Rechtssicherheit herzustellen.
Rechnen wir einmal die gesellschaftlichen Kosten einer einzigen Einkaufswagen-Entwendung durch:
- Preis des Einkaufswagens: 100-250 Euro.[7]
- Strafanzeige bei der Polizei als Vorgang: 15 Minuten = 5,6 Euro [48.000 Euro Jahresgehalt[8] : (12 Monate x 22 Tage x 8 Stunden) = rund 22 Euro Stundenlohn]
- Abtransport durch die Berliner Stadtreinigung mit Vernichtung als Altmetall: zwischen 50-100 Euro bei der BSR.[9]
- Gesellschaftlicher Schaden: 155,6 Euro bis 355,6 Euro pro Einkaufswagen
- Bei bisher 78 Einkaufswagen (Stand 29.10.22): minimal 78 x 155,6 = 12.136,8 Euro bis maximal 27.736,8 Euro
Das sind ganz hübsche Sümmchen, oder?
- Das Böckenförde-Diktum
Ein guter Verfassungsrechtler namens Ernst-Wolfgang Böckenförde hat einmal geschrieben: „‘Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann‘“[10].
Mit anderen Worten: Die Voraussetzung der Gleichheit der Bürger ist das moralische Gerechtigkeitsgefühl für das Gemeinwohl. Wenn eine gegebene Gesellschaft aus Rechtsbrechern besteht, kann sie nicht funktionieren, jedenfalls nicht als freiheitliche Demokratie.
- Die Quelle der bürgerlichen Freiheit ist die Gottesliebe
Da also die bürgerliche Gesellschaft nicht nur von Beginn an tief gespalten ist, wie z.B. in die schon genannten Randgruppen, sondern ebenfalls durch die Sünde unfähig ist, sich selbst zu erneuern, sind wir Christen tatsächlich das „Salz der Erde“ wie es Jesus Christus im Matthäusevangelium (5,13; τὸ ἅλας τῆς γῆς) ausdrückt.
Nur wir Christen sehen in jedem Bürger ein Ebenbild Gottes, sogar in unseren Feinden. Deshalb ist das Christentum der letztliche Garant für die bürgerliche Freiheit überhaupt.
Und durch die Nächstenliebe lieben wir alle, die Guten und Bösen, und helfen in selbstloser Arbeit mit, unsere Gesellschaft am Leben zu erhalten.
Jesus Christus spricht: „Liebt eure Feinde und betet für die, die euch verfolgen, damit ihr Kinder eures Vaters im Himmel werdet; denn er lässt seine Sonne aufgehen über Bösen und Guten und er lässt regnen über Gerechte und Ungerechte.“(Mt 5,44f; ἀγαπᾶτε τοὺς ἐχθροὺς ὑμῶν καὶ προσεύχεσθε ὑπὲρ τῶν διωκόντων ὑμᾶς, ὅπως γένησθε υἱοὶ τοῦ πατρὸς ὑμῶν τοῦ ἐν οὐρανοῖς, ὅτι τὸν ἥλιον αὐτοῦ ἀνατέλλει ἐπὶ πονηροὺς καὶ ἀγαθοὺς καὶ βρέχει ἐπὶ δικαίους καὶ ἀδίκους.)
- Bürgerliche Rechtspflichten und christliche Tugenden
In meiner Lieblingsenzyklopädie Wikipedia ist nur von vier Pflichten von Staatsbürgern die Rede: Bildungs-, Schul-, Melde- und Steuerpflicht.[11]
Das ist nicht viel. Und es würde sich sicher nichts ändern, wenn wir ein ‚Gesetz über die Rückführung herrenloser Einkaufswagen‘ hätten, gelle!
Kehren wir also von unserer Sünde um, schauen in unserer Nachbarschaft nach dem Rechten und tun dasselbige!
[1] Farm der Tiere – Wikipedia (abgerufen am 29.10.22).
[2] Anzahl der Deutschen mit und ohne Migrationshintergrund 2021 | Statista (abgerufen am 29.10.22).
[3] Minderjährige in Deutschland nach Altersgruppen 2021 | Statista (abgerufen am 29.10.22).
[4] Behinderte Menschen – Statistisches Bundesamt (destatis.de) (abgerufen am 29.10.22).
[5] Pflege in Deutschland – Zahlen und Statistiken | Statista (abgerufen am 29.10.22).
[6] Gefangene und Verwahrte in den Justizvollzugsanstalten bis 2021 | Statista (abgerufen am 29.10.22).
[7] Klau von Einkaufswagen: Supermärkte haben Problem (hna.de) (abgerufen am 29.10.22).
[8] Beamte vs. Angestellte: Pension, Gehalt, Rente im Check | STERN.de (abgerufen am 29.10.22).
[9] Sperrmüllabfuhr für Privatkunden | BSR (abgerufen am 29.10.22).
[10] Böckenförde-Diktum – Wikipedia (abgerufen am 29.10.22).
[11] Bürgerpflicht – Wikipedia (abgerufen am 29.10.22).
